Sucht und Langeweile

Plötzlich kam die Langeweile

Ich möchte über ein Gefühl schreiben, mit dem ich mich gut auskenne, mir jedoch nie näher Gedanken dazu gemacht habe. Bis ich vor ein paar Tagen einen Podcast zu dem Thema Langweile gehört habe. Zu Gast war Silke Ohlmeier, Soziologin und Langeweileforscherin. Ja wirklich, Langeweile wird erforscht! Forschende aus der Soziologie und der Psychologie zum Beispiel widmen sich dieser Thematik. Sie diskutieren allerdings noch über die genaue Definition von Langeweile. Viele Faktoren spielen dabei eine Rolle, die es erschweren, eine weitere Schublade für Menschen mit diesem Persönlichkeitsmerkmal zu schaffen.

Langeweile wird in zwei Arten unterteilt: Das „State Boredom“ (boredom: engl. für Langeweile) beschreibt einen Moment der Langeweile mit einem Anfang und einem Ende. Du schaust dir zum Beispiel ein langweiliges Fussballspiel an und weißt, es wird in Kürze enden.
Das „Trait Boredom“ dagegen ist das Gefühl der Langeweile, das in einem Menschen persönlich entsteht und hat keine erkennbaren zeitlichen Begrenzungen. Wie schnell sich jemand langweilt und wie intensiv das Gefühl dabei empfunden wird, ist individuell unterschiedlich.

 

Wo genau wurzelt das Gefühl der Langeweile?

Kinder äußern sich im Gegensatz zu den Erwachsenen noch ganz ungeniert darüber, dass sie sich langweilen. Dies ist oft als ein Appell zu verstehen, der meist an die Erwachsenenwelt gerichtet ist. Sie wünschen sich, dass jemand aus dem „Außen“ etwas gegen ihr Gefühl der Langeweile unternimmt. Es geht ihnen darum, ein inneres Gefühl des Mangels zu kompensieren. In der kindlichen Entwicklungsphase entsteht meinem Verständnis demnach wohl die Fähigkeit zur „produktiven Orientierung“, um es mit Erich Fromms Begrifflichkeit auszudrücken. Das Kind wünscht sich ein bestimmtes Reizangebot. Eigentlich kommen Kinder mit weit weniger Reizangeboten aus, als ihnen allgemein geboten wird. Sie werden regelrecht reizüberflutet mit Spielzeug und Bespaßung.

Doch genau hier liegt die Gefahr für die Entstehung eines „neurotischen Bedürfnisses“. Auch ein Begriff von Erich Fromm. Ein neurotisches Bedürfnis kann durch einen Überfluss an Unterhaltung, Konsum und Bespaßung entstehen. Die Gier, diese Bedürfnisse zu befriedigen, kann nicht gesättigt werden. Was folgt, ist: Man will immer mehr. Wenn wir nicht lernen, eigene Interessen und Aktivitäten zu entwickeln, kann ein Mangel an Produktivität und die daraus resultierende Antriebslosigkeit entstehen. Das ist die Wurzel der „leidenschaftlichen und irrationalen Wünsche“ – und oft auch der Übergang zu süchtigem Verhalten.

 

 

 

Habe ich mit Alkohol versucht diese leidenschaftlichen und auch irrationalen Wünsche zu stillen? Bestimmt auch – dazu kamen jedoch noch einige andere Gründe. Ich hatte eine Phase, in der mich Langeweile wirklich quälte. In ihrem Buch Langeweile ist politisch zitiert Silke Ohlmeier den Langeweileforscher Dr. John Eastwood (Associate Professor, Kanada), der eine wirklich treffende Beschreibung für mein Gefühl formuliert hat:

 

“Langeweile ist das unangenehme Gefühl, eine zufriedenstellende Aktivität ausführen zu wollen, aber nicht zu können.”

 

Genauso fühlte es sich auch damals für mich an. Und wenn ich ehrlich bin, auch heute noch manchmal. Dieser Definition nach müsste es doch ganz einfach sein, etwas dagegen unternehmen zu können. Ich suche mir einfach eine Beschäftigung, die mich zufriedenstellt. Yeah! Aber ganz so einfach ist das eben nicht. In meiner Phase der Langeweile, übrigens vorausgehend meiner Depression, habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als zu wissen, was ich will. Aber dieses lähmende Gefühl hat mich lange daran gehindert, herauszufinden, was es ist.

Für manche Menschen scheint dieses Phänomen unvorstellbar. Mein Mann zum Beispiel langweilt sich nicht. Er genießt anscheinend meistens den Moment, auch wenn er „Nichts“ tut. Ich kann „Nichtstun“ auch genießen. Aber machmal überfällt mich der Zustand von Langeweile eben auch, wenn ich es mir nicht wünsche.
Ich kenne auch Menschen, die wünschen sich Langeweile, weil ihr Leben reiner Stress für sie bedeutet. Hier wird es interessant, weil das Persönlichkeitsmerkmal der Langeweile nicht an den Aktivitätsgrad eines Menschen gebunden sein soll. Ohlmeier beschreibt in ihrem Buch, dass Langeweile ein individueller Empfindungszustand ist, unabhängig davon, ob ein Mensch über-  oder unterfordert ist. Es ist eher an die eigens empfundene Sinnhaftigkeit der Tätigkeit gebunden.

Damit möchte ich nicht zum Ausdruck bringen, dass jeder Mensch, der viel beschäftigt ist, versucht Langeweile zu vermeiden. Ich möchte dabei eher ein Bild der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung anführen, in der zunehmend Leistung und Wettbewerb zählen und das Nichtstun mit Scheitern gleichgesetzt wird.
Es ist das Bild einer Gesellschaft, in der das Individuum in seiner Entwicklung der Entwicklung der modernen Zivilisation nicht schnell genug hinterherkommt. Der Evolutionsforscher Franz M. Wuketits sagt in einem Artikel im Standard.at dazu:

"Unser Gehirn hat sich seit mindestens 30.000 Jahren nicht nennenswert verändert. Verschiedene Ergebnisse weisen daher darauf hin, dass wir an das Tempo unserer Zivilisation, an das Leben in anonymen Massengesellschaften nicht angepasst sind."

Liegt das Gefühl des Mangels und der Langeweile demnach am fehlenden Zugang zu unserem wahren Selbst? Die Ausrichtung auf unsere Umwelt und dessen Anforderungen, denen wir anscheinend nicht gerecht werden können verhindert, dass wir so denken, fühlen und handeln, wie unsere Vorfahren. Nämlich so, wie es dem Entwicklungstand unseres Gehirns entspricht.
Wenn dem so ist, dann leuchtet mir ein, warum wir uns medikamentieren wollen – mit allem, was eine Veränderung in unserem Gehirn bewirkt. Immer auf der Suche nach einer Bedürfnisbefriedigung – auf der Suche danach, uns selbst spüren zu können.

Womit ich wieder beim Thema Sucht bin. Die Suche nach Erfüllung versucht der Mensch mit Konsum zu befriedigen. Langeweile lässt sich mit zwei von der Gesellschaft angebotenen Medikamenten bewältigen: Zum einen mit Gewalt, zum anderen mit Konsumismus. Quelle

Ich möchte gerne etwas näher auf den Konsumismus eingehen. Menschen, die einen Mangel verspüren, suchen Beschäftigung, um das Gefühl der Langeweile zu vermeiden. Sie langweilen sich, sobald sie mal nichts zu tun haben. Das kann sehr stark ausgeprägt sein – so stark, dass Beschäftigung zur Medikamentation werden kann. Hier sind wir wieder beim Übergang zu süchtigem Verhalten. Das kann auch eine gesellschaftlich anerkannte Verhaltensweise, wie z. B. Arbeit oder Sport sein. Die spannende Frage dabei ist, warum aus einer angemessen Verhaltensweise eine süchtige und unangemessene Verhaltensweise entsteht. Und diese unangemessene Verhaltensweise dann sogar eine psychotrope Wirkung auf uns hat. Nicht stoffgebundene Süchte, um weitere zu nennen, wie zum Beispiel Spielen, Putzen, Essen, Konsumieren, Sex, Hungern, usw. gehen, genau wie stoffgebundene Süchte, mit einer Veränderung im Gehirn her.

 

„Alle Süchte sind Leidenschaften, die Leiden schaffen. Sie sind Passivitäten.“
(Erich Fromm, „Überfluss und Überdruss in unserer Gesellschaft“)

 

Das Gefühl der Langeweile ist so überwältigend und so unangenehm, dass der Mensch allgemein versucht, es dringlichst zu vermeiden. Ich möchte auf meine persönliche Situation zurückkommen. Als ich mich plötzlich so nichtstuend langweilte, war ich schon länger als ein Jahr nüchtern. Die anfängliche Euphorie meines neuen nüchternen Lebens war stark abgeschwächt, das Loch, das der Alkohol in meinem Leben hinterlassen hatte, war groß! Es war so dunkel, dass ich eigentlich gar nichts um mich herum sehen konnte. Langeweile war für mich eine sehr unangenehme Selbstwahrnehmung. Ich war antriebslos und gelähmt.


Beim Schreiben dieser Zeilen fällt mir auf, dass ich mich dafür schäme, auszusprechen, unproduktiv gewesen zu sein. Scham und Stigma lasten auch auf der Langeweile. Das beschreibt auch Silke Ohlmeier sehr schön in ihrem Buch. Dabei hatte ich es doch endlich geschafft, vom Alkohol wegzukommen. Endlich nüchtern – und immer noch nicht glücklich?

 

 

Bin ich wieder gescheitert?

Nein – bin ich nicht. Ich stellte lediglich fest, dass ich in meinem durch Alkohol betäubten Leben nie wirklich gelernt hatte, zufriedenstellende Aktivitäten auszuüben! Dabei ist mir wichtig zu erklären, dass ich nicht immerfort betrunken war, nein, allein der regelmäßige Konsum hat meine Persönlichkeit so verändert, dass derartige Entwicklungsprozesse auf der Strecke blieben. Ja, ich weiß – das hört sich traurig an. Aber so ist es.
Es erfüllte an dieser Stelle in meinem Leben jedoch seinen Zweck. Es war ein Zeichen dafür, dass ich etwas ändern sollte. Allerdings wusste ich immer noch nicht, was es war. Ich wusste nur, dass ich es wollte: Eine Veränderung! Ich verweilte in dem Gefühl der Langweile, bevor ich Ideen bekam, aus diesem unangenehmen Zustand zu entkommen.

 

Was geschieht, wenn wir uns der Langeweile stellen? Was, wenn wir sie eine zeitlang aushalten?
Wir müssen genau hinschauen und uns fragen, was unsere wahren Bedürfnisse sind. Und wenn wir das nicht erkennen können, dann müssen wir uns auf die Suche begeben. Um unsere Bedürfnisse befriedigen zu können, müssen wir sie erst finden. Und dazu müssen wir unsere Gefühlswelt verstehen lernen. Wir müssen ins Spüren kommen.

Ich habe also angefangen, mich für meine Bedürfnisse zu interessieren. Auch das mag erst mal banal erscheinen. Aber meine echten persönlichen Bedürfnisse waren mir nie wirklich bewusst. Auch darüber habe ich nie wirklich nachgedacht! Und damit komme ich wieder bei dem Thema der Selbstfürsorge und Achtsamkeit an. Denn hier liegt der Schlüssel der Möglichkeit, mit sich selbst wieder in Kontakt zu kommen. Also mit seinem Fühlen, Denken und Handeln.

Ich kam auf meinem Weg in die Nüchternheit wieder an eine Schwelle, an der ich aufgefordert war, loszulassen. Damit meine ich sämtliche Lösungsversuche, die das Loch zu füllen versuchten, das der Alkohol hinterlassen hatte. Stichwort „Suchtverlagerung“.

Ich ließ also los von der Erwartung, dass die Befriedigung meiner leidenschaftlichen irrationalen Wünsche im Außen zu finden sind. Ich fing an wirklich zu begreifen, dass ich nur durch den Blick auf mich selbst und meine wahren Bedürfnisse das Gefühl eines „zufriedenstellenden Zustands“ erreichen kann.

Wir mögen vielleicht nicht mehr in einer für den Menschen artgerechten Welt leben. Doch können unser Wohlbefinden steigern, ohne den Rausch durch bewusstseinsverändernde Substanzen oder Verhaltensweisen.

 

Daran glaube ich fest.

Ich freue mich über eure Gedanken und Ideen zu diesem Thema. Wie ergeht es euch nach einer längeren Lebensphase ohne Alkohol? Kennst du das unangenehme Gefühl der Langeweile auch?

 

Quellen:

 http://www.fromm-gesellschaft.eu/images/pdf-Dateien/Funk_R_2010c.pdf
Quelle: https://www.quarks.de/gesellschaft/psychologie/langeweile-mehr-als-nur-das-fehlen-einer-beschaeftigung/
https://www.derstandard.at/story/1358305013791/forscher-artgerechte-menschenhaltung-statt-temporausch

 

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