Mindful Drinking

Eine Märchenwelt

Was ist eigentlich so besonders an der Alkoholwelt? Warum haben wir so große Angst davor, ihr den Rücken zu kehren?

„Mindful Drinking“, eine Bewegung, die dazu motiviert lieber alkoholfrei zu trinken. Dabei steht der Wunsch nach leckeren Alternativen im Vordergrund. Alkoholische Getränke stehen allerdings mit alkoholfreien Getränken auf Augenhöhe. Alkohol wird ganz klar nicht als Gift deklariert, obwohl über die Gefahren vom Alkoholkonsum aufgeklärt wird. Man will das Angebot an alkoholfreien Getränken ausweiten. Eine längst überfällige und lobenswerte Entwicklung.

Trotzdem frage ich mich: Was ist eigentlich so besonders an der Alkoholwelt, von der wir überall umgeben sind? Warum haben wir so große Angst davor, dieser Welt den Rücken zu kehren?

Weil wir glauben, indem wir das Glas Wein stehen lassen, nicht nur auf Alkohol verzichten, sondern auch einen Teil unserer Identität aufgeben zu müssen. Schon als Kinder sind wir von einer Welt umgeben, die sich rund um den Alkohol aufbaut. Es ist für uns völlig normal, zu konsumieren.

Jugendliche sind eine wichtige Zielgruppe für die Alkohol-und Werbeindustrie.

Sie bombardieren uns permanent mit Bildern von glücklichen Menschen, die in fröhlicher Gemeinschaft auf Segelbooten in Richtung Freiheit schippern. Sie suggeriert, wie viel Spaß und ausgelassene Freude wir doch empfinden können, wenn wir nur diese eine Flasche in der Hand halten. Später, wenn wir endlich erwachsen sind und es gelernt haben Alkohol zu trinken, ist ein Zusammentreffen in der Gemeinschaft ohne Alkohol für die meisten von uns unvorstellbar.


Das Glas Wein gehört zum Essen wie die Flasche Bier an den Grill. Männer trinken starkes Zeug, Frauen pinkes. Die emanzipierte Frau trinkt Whiskey und gibt dem Mann in der Bar ein Bier aus. Fussball ohne Bier geht sowieso nicht. Kennst du einen Biergarten, der nicht mit Alkoholwerbung ausgestattet ist? Nee, klar, ist ja auch ein Biergarten. Ist eben so, war schon immer so.

Alkohol gilt als Genussmittel, in Bayern gilt es bei manchen sogar als Lebensmittel, Alkohol ist unser kostbares Kulturgut. Das lassen wir uns nicht nehmen. In meinen Gesprächen mit Bekannten über meine Abstinenz, ist es übrigens DAS Lieblingsargument: Alkohol ist eben unser Kulturgut. Man erzählt mir dann, dass wir schon vor tausenden von Jahren Alkohol konsumiert haben.

Na und??? Stell dir mal vor, wir würden alles, was unsere Gesellschaft über Jahrhunderte praktiziert hat weiterleben, weil es halt immer so war: Zwangsheirat zum Beispiel.

Und dann ist da natürlich auch noch die Tatsache, dass unsere Lebensweise uns zunehmend auf eine besondere Art fordert. Wir streben zunehmend nach Wachstum, Schnelllebigkeit, Konsum und Wettbewerb. Wir brauchen ein Ventil, um den ganzen Druck aushalten zu können. Wir brauchen etwas gegen den Stress. Wir brauchen Drogen – egal welcher Art.

Mit meiner Nüchternheit habe ich gelernt, dass Stress nicht verschwindet. Allerdings gewinnt man die Fähigkeit, mit Stress besser umgehen zu können. Wir sind viel widerstandsfähiger als wir glauben. Wir haben es nur nicht gelernt, mit unseren natürlichen Überlebensmechanismen zu leben. Wir wissen nicht mehr, wie wir auf die wichtigen Signale hören können und welche für uns relevant sind. Angst und Schüchternheit zum Beispiel, können durchaus ihren Sinn erfüllen. Die müssen wir nicht sofort betäuben.

Es werden uns viele verschiedene Mittel angeboten, um all die unangenehmen Gefühle schnellst möglich zu beseitigen. Mit der üppigen Auswahl an Medikamenten, Drogen und anderen Verdrängungsmechanismen, kommen wir schnell und einfach an den unangenehmen Gefühlen vorbei und werden sogar noch durch unnatürlich geschaffene Glücksbotenstoffe belohnt. Um ein Vielfaches sogar!

 

 

 

Natürlich möchte kein Individuum bevormundet werden. Denn wir möchten stets das Gefühl haben, selbstbestimmt zu handeln. Wir wollen echte Individuen sein, die autonom leben. Doch das ganze Brainwashing rund um den Alkohol, das unser Unbewusstes permanent bearbeitet, bewirkt jedoch das absolute Gegenteil: wir handeln nicht selbstbestimmt. Wir glauben es nur. Es ist eine schön gemalte Märchenwelt.

Dass vor allem Jugendliche zu dieser Welt dazugehören möchten, kann ich verstehen. Ich kann mich noch gut erinnern: „Bacardi Feeling“…, ihr wisst schon… „Eisgekühlter Bommerlunder“, usw…die Zigarette noch in der Hand und das Bild der Selbstbestimmung, Tiefsinnigkeit, Sexyness ist komplett. Man will dazugehören. Punkt. Die Alkoholwelt ist Teil unseres Lebens, sogar Teil unserer Identität. Die Werbung gibt alles dafür, uns einzutrichtern, dass wir nur die Flasche in der Hand halten müssen, um dazuzugehören.


Diese Welt gibt es nun auch alkoholfrei. „Mindful Drinking“ eine Bewegung, die Menschen dazu bringt, lieber zum Cocktail ohne Alkohol zu greifen, als zu dem mit echtem Stoff drin. Das ist natürlich erst einmal eine großartige Idee! Es wird aber großen Wert darauf gelegt, die Alkoholwelt zu imitieren. Ich frage mich, ob das wirklich nötig ist? Es scheint unsere größte Angst zu sein, nicht mehr zu dieser Welt dazuzugehören.

Ich persönlich würde gerne am Gesamtbild schrauben, das wir von einer Welt haben, in der man nur Spaß haben kann, wenn man dieses Cocktail-Glas in der Hand hält – mit oder ohne Alkohol. Oder das edle langstielige Glas mit der tiefroten Flüssigkeit, die sämig den Glasrand herunterläuft.

Alkoholfreie Bars sind ohne Zweifel eine Errungenschaft. Nicht nur für die wachsende Zahl der Jugendlichen, die sich dagegen entscheidet, sich zu betäuben, ihre Entscheidungsfähigkeit vom Alkohol einschränken zu lassen und sich ihrer Selbstbestimmung zu berauben. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es nicht auch anders geht. Muss man dieser „Welt“ wirklich angehören, um ein ganzer Mensch zu sein?
Warum muss denn ein Getränk ohne Alkohol so aussehen und möglichst auch so schmecken, als wäre echter Alkohol drin?
Weil es schmeckt, ist die Antwort. Das sehe ich ein. Außerdem wollen auch wir Nichttrinker*innen mal ein besonders schönes Glas in der Hand halten, das mehr hergibt, als ein Wasserglas. Da draußen gibt es einfach viel zu wenig leckere Alternativen zu alkoholischen Getränken.
Das erinnert mich an die nicht kreativen Angebote, die es früher für Vegetarier*innen auf der Speisekarte gab, was sich zum Glück stark geändert hat. Längst beweisen Köche und Köchinnen, wie lecker und vielfältig die fleischlose Küche ist.

In einer „Alkohol-Ersatz-Welt“ wird meiner Meinung nach nicht an der verkehrten Welt des Alkohol gerüttelt. Im Gegenteil – es wird versucht diese Welt am Leben zu erhalten.
Man will vermeiden, Alkohol klar als Gift zu benennen. Alkoholische und nichtalkoholische Getränke stehen gleichberechtigt nebeneinander. Natürlich wird auf die Gefahr der Alkoholabhängigkeit hingewiesen. Es wird aber vermieden, Alkohol als Gift zu deklarieren.

Ich möchte Alkohol ganz klar als Gift benennen, weil es Gift ist. Punkt.

Daran läßt sich nichts drehen. Ethanol ist im Raketentreibstoff enthalten und man desinfiziert sich damit die Hände. Schon 15g Alkohol, etwa ein kleines Glas Wein, können einem dreijährigen Kind lebensgefährliche Vergiftungen verursachen. Alkohol tötet sämtlich Zellen in unserem Körper, Alkohol ist ein Nervengift und kein Genussmittel. Daran glaube ich schon lange nicht mehr.

Natürlich ist "Mindful Drinking“ meiner Meinung nach eine lobenswerte Entwicklung, wenn sie zu einem gesundheitsbewussten Leben mit wenig oder gar keinem Alkohol ermutigt.

Dennoch ist folgendes zu bedenken: Menschen, die schon ein Problem mit Alkohol haben, werden in diesem Ansatz nichts anderes finden, als das Konzept des kontrollierten Trinkens und die Bestätigung dafür, in einer rund um den Alkohol gestrickten Märchenwelt zu verharren, die weit entfernt ist von echter Selbstbestimmung, gar nicht zu reden von Menschen, die schwerst süchtig waren und von allem getriggert werden, was sie nur in kleinster Form mit Alkohol verknüpfen.


Abschließend möchte ich laut sagen: Es ist möglich, Spaß am Leben ohne diese Alkohol-Märchenwelt zu haben – ob mit oder ohne Schuss. Nüchtern zu sein, in einer Welt voller Alkohol ist am Anfang unvorstellbar und auch eine Herausforderung. Aber der Punkt, an dem man erkennt, dass man nicht dazugehören muss, um Spaß und Freude am Leben zu haben, ist unbeschreiblich befreiend.


Nüchtern rockt.

 

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