Kontrolle oder Freiheit?
„Wenn ich aufhöre zu trinken, kann ich mir dann nicht ab und zu mal ein Glas zur Belohnung gönnen… an Sylvester oder so…?“
Diese Frage hat mir neulich jemand gestellt und ich möchte
sie gerne zum Anlass nehmen, über „kontrolliertes Trinken“ zu sprechen.
Ich bin besonders an dem Wort „Belohnung“ hängen geblieben, weil ich persönlich Alkohol in keiner Weise mehr mit
Belohnung in Verbindung bringe.
Ich frage mich, wofür genau möchte man sich belohnen? Ist es die Abstinenz an sich? Möchte man sich für die Arbeit belohnen, die man geleistet hat? Muss man sich dafür belohnen, lange Zeit
ohne Alkohol ausgekommen zu sein? Eine Belohnung für den Verzicht?
Ich muss es nicht aushalten, nüchtern zu sein. Ich bin froh, dass ich nicht mehr trinken muss. Das hat rein gar nichts mit Verzicht zu tun.
Dennoch kann ich diese Frage sehr gut verstehen. Ich war ja auch mal eine sehr geübte Trinkerin. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass ich ganz ohne Alkohol leben kann. Ich kenne all die Ängste und Bedenken, die man hat, wenn man sich dem Thema Nüchternheit nähert.
Kontrolliertes Trinken – Ja oder Nein?
Manche fragen sich, und natürlich habe ich das auch ausprobiert, ob „kontrolliertes Trinken“ nicht das Problem lösen könnte. Wie du weißt, glaube ich daran, dass jeder seinen eigenen Weg finden muss. Wer das ausprobieren möchte, weil er daran glaubt, sollte dies tun. Es soll einige wenige Menschen geben, die damit gut leben können und ihren Konsum stark reduziert haben.
Wenn das Ziel ist, weniger zu trinken, dann könnte es ein Weg sein. Ich kenne übrigens keine*n von ihnen. Ich frage mich, ob die Betroffenen auch wirklich zufrieden dabei sind, oder ob sie sich in einem ständigen Kampf befinden.
Die Experten sind uneins darüber, wie „wirksam“ kontrolliertes Trinken ist.
Ob ein Weg mit Alkohol wirksam sein kann, möchte ich gar nicht thematisieren. Ich stehe mit meiner Haltung für ein alkoholfreies Leben ein. In meinem Artikel Alkoholkonsum und seine Folgen habe ich darüber geschrieben, warum uns jedes Glas Alkohol schadet. Alkohol ist ein Nervengift – Punkt.
Vielleicht gibt es wirklich Menschen, für die der einzige Weg ist, ihren Konsum von acht auf sechs Flaschen Bier am Tag zu reduzieren. Für manche Menschen, und so sehen es auch manche Suchtmediziner*innen, ist das kT manchmal die einzige Chance ihrer Gesundheit ein Stück näher zu kommen und sich so vor Schlimmerem zu bewahren. Ich möchte mir nicht anmaßen, darüber zu urteilen. Und auf keinen Fall möchte ich irgendjemanden von seinem Weg abbringen.
Mein Ziel war es, mich von dieser Sucht zu befreien. Ich wollte die Kontrolle über mein Leben zurück haben und aus meinem Inneren heraus endlich wieder klare Entscheidungen treffen können.
Ich hatte eine Mordsangst davor, dass mich dieses Teufelszeug irgendwann ganz zu Boden zwingen würde. Ich habe gefühlt, dass ich Alkohol aus meinem Leben ausschließen muss.
Auch wenn das Gefühl nicht mit der Vorstellungskraft über die Möglichkeit der Abstinenz übereingestimmt hat. Zum Glück hatte ich den Mut meinem Gefühl zu
vertrauen. Ich wollte endlich frei sein! Endlich kennenlernen, was da immer hinter dieser Tür auf mich gewartet hat. Zu dem ich täglich gesagt habe: „Heute nicht, aber morgen.“
Hätte ich damals kontrolliertes Trinken ausprobiert und es auch „in den Griff“ bekommen, wäre ich niemals in den Genuss der kompletten Befreiung von Alkohol gekommen. Ich bin unbeschreiblich dankbar für den Prozess, den mir die Nüchternheit gebracht hat. Es ist für mich eine absolute Bereicherung. Sie ist ein Geschenk. Sie ist eine Chance für mich, Positives wie Negatives in meinem Leben an der Wurzel zu packen.
Wenn du dich aus deiner Sucht befreien möchtest und ein freies, selbstbestimmtes Leben führen möchtest, dann ist kontrolliertes Trinken nicht der richtige Weg.
Es nimmt dir wertvolle Energien, die du für dich und dein Leben brauchst. Es schadet dir gesundheitlich! Kontrolle kann man auch mit Observation, Zensur, Beherrschung, Knechtung, Prüfung oder Probe umschreiben. So möchte ich nicht leben. Vielleicht kommt dir der Vergleich etwas übertrieben vor. Nüchtern betrachtet hat es sich aber genauso angefühlt. Das Gegenteil von „frei“.
Kontrolliertes Trinken bedeutet, stets mit einem Plan im Kopf den Alltag gestalten zu müssen. Immer wieder Abmachungen mit sich treffen. Ständig innere Diskussionen zu führen, ob und wann man sich nun dieses Glas Weißwein oder die Falsche Bier gönnen darf. Mal ganz ehrlich, haben wir das nicht eh die ganzen Jahre über schon versucht, kontrolliert zu trinken?
Unsere Persönlichkeit, die über einen langen Zeitraum durch den Alkoholkonsum unter Einfluss stand und dadurch geschwächt wurde, soll also jetzt die verantwortungsvolle Rolle übernehmen zu entscheiden, wann wir wieviel trinken können!? Daran glaube ich nicht, weil sie noch in der Abhängigkeit gefangen ist und sich selbst betrügt.
Immer wieder Entscheidungen treffen zu müssen, immer wieder mit seinem inneren Schweinehund diskutieren zu müssen, der gerne mal zwischendurch die Größe von Godzilla einnimmt. Das muss wirklich sehr anstrengend sein. Mit der Abstinenz schrumpft der Schweinehund irgendwann und wird so klein, dass er keine einflussreiche Stimme mehr hat.
Es gibt das Suchtgedächtnis, es vergisst nicht!
Alkohol hat unter anderem Einfluss auf unseren Dopaminhaushalt. Nach einiger Zeit müssen wir mehr trinken, weil es zu einer Toleranzentwicklung kommt. Die Nervenzellen im Gehirn fangen an, sich gegen die Dopaminflut zu wehren und die Zahl der Andockstellen wird reduziert. Das führt zur Abschwächung des weitergeleiteten Signals und zu einem Belohnungsdefizit.
Das Suchtgedächtnis entsteht, das Verlangen nach Alkohol ist unser ständiger Begleiter. Das Verlangen ist auf die Gewöhnung zurückzuführen, Alkohol zu konsumieren. Diese Gewöhnung ist gekoppelt an Situationen, Emotionen, Räume, Menschen, usw. Wir haben einen Weg festgetreten – vielmehr eine fünfspurige Autobahn.
Wir können diese Gewohnheit in unserem Gehirn jedoch überschreiben, einen neuen Weg entstehen lassen. Und mit der Nüchternheit wird das Suchtgedächtnis immer kleiner. Es wird nie ganz weg sein, aber man kann schon nach einigen Wochen spüren, wie es schrumpft – wenn man komplett abstinent lebt.
Wichtige Spieler sind auch Enzyme (MEOS), die sich nach übermäßigem Alkoholkonsum im Darm gebildet haben, um der Leber beim Abbau von Alkohol zu helfen. Diese Enzyme sorgen dafür, dass wir nach einiger Zeit immer mehr Alkohol „vertragen“. Diese Enzyme bleiben aber, auch wenn man schon lange abstinent lebt.
Das heißt, dass du nach langer Abstinenz noch genauso viel Alkohol „verträgst“, wie vor der Nüchternheit. Auch das erschwert das kontrollierte Trinken enorm, weil du sofort wieder im Kreislauf ankommst, aus dem du so lange nicht herausgekommen bist.
Natürlich kann man das Thema wissenschaftlich auseinandernehmen und bis ins Letzte ausdiskutieren. Man würde vermutlich zu keinem Ergebnis kommen. Für mich geht es bei der Frage um eine Lebenseinstellung. Ich behaupte, dass es einfacher ist, komplett nüchtern zu leben. Wenn mir die Fähigkeit gegeben würde, kontrolliert trinken zu können, ich würde es nicht mehr tun. Weil mir nichts fehlt! Ich brauche den Alkohol nicht mehr. Er kann rein gar nichts belohnen.
Alkohol ist ein Nervengift. Und mit jedem Glas Wein gehe ich einen Handel mit meiner Zukunft ein.
Allen Carr spricht in seinem Buch Endlich ohne Alkohol davon, dass wir mit dem Eintritt in die Alkoholwelt in eine Falle geraten. Sie schnappt zu, wie eine fleischfressende
Pflanze. Mit kontrolliertem Trinken würde ich mein Suchtverhalten aufrechterhalten. Ich würde immer mit einem Bein in dieser Falle hängen
bleiben.
Ich glaube, es wäre der Weg entlang eines Abgrunds, den man jederzeit plötzlich und unerwartet hinunterfallen könnte. Mit meiner Nüchternheit ist der Weg weit genug davon entfernt. Ich fühle mich in sicherer Distanz zu ihm.
Ich habe aufgehört zu trinken, weil ich nicht mehr an Alkohol glaube. Ich brauche ihn nicht mehr.
Es gab eine Zeit, da war Alkohol mein engster „Freund“. Ich habe ihm so gut wie alles untergeordnet. Alkohol hat mich betrogen und ich habe mich von ihm getrennt. Dadurch habe ich so unbeschreiblich viel gewonnen. Mein Leben, mit allem, was dazu gehört, ist die Belohnung.
Nein – ich will keinen Alkohol mehr trinken. Nie wieder.
Kommentar schreiben