Süchtig
Ich behaupte, ich bin nicht mehr alkoholsüchtig, weil ich abstinent bin und keine der entsprechenden Kriterien erfülle. Ich bin aus voller Überzeugung nüchtern und habe kein Verlangen mehr nach Alkohol.
Aber ist meine Sucht wirklich ganzheitlich geheilt? Nicht selten kommt es vor, dass Abhängige ihre Sucht verlagern. Bleibt man immer süchtig, auch wenn man keinen Tropfen Alkohol mehr trinkt? Ich glaube, manche Menschen bleiben es, andere aber nicht. Was genau macht eine Sucht aus? Meine Meinung dazu ist geprägt von wissenschaftlichen Erkenntnissen und meiner persönlichen Erfahrung.
Diese Kriterien sprechen für eine Sucht:
- zwanghaftes Verlangen zu konsumieren (oder ein zwanghaftes Verhalten)
- Kontrollverlust
- Toleranzentwicklung
- Entzugserscheinungen
- Interesseneinengung
- fortgeführter Konsum (fortgeführtes Verhalten) trotz Wissen über eindeutige schädliche Folgen
Aber ist meine Sucht wirklich ganzheitlich geheilt?
Nicht selten kommt es vor, dass Abhängige ihre Sucht verlagern. So werden Drogenabhängige nach Bewältigung ihrer Sucht gerne mal zu Extremsportlern oder Extremsportlerinnen.
Ist eine Suchtverlagerung hin zu einer „gesunden“ Sache nicht besser, als sich weiter Gift zuzuführen?
Ja, natürlich ist es besser. Allerdings ist es wichtig, sich diese Tatsache bewusst zu machen, um nicht unbemerkt von seinem Weg aus der Abhängigkeit abzukommen. Die Ursachen der Sucht sind die Wurzeln, die man kappen muss. Dazu sollte man die Pflanze nicht weiter pflegen. Allerdings ist in meinen Augen eine Suchtverlagerung, der man sich bewusst ist, am Anfang ein sicherer Rahmen, in dem man eine Abstinenz festigen kann.
Von der Wortbedeutung her stammt Sucht von „dahinsiechen“ ab. Es hat der Meinung mancher Experten nach nichts mit der „Suche“ zu tun. Ich denke, das hat es schon.
Wenn man süchtig nach etwas ist, dann sucht man auch etwas. Da ist diese Sehnsucht nach Erfüllung, nach einer Antwort, nach Geborgenheit, nach dem richtigen Ort. Das Fatale daran ist, dass
man leider immer am falschen Ort sucht, denn Drogen führen einen mit ziemlicher Sicherheit weit weg von dem Ort, nach dem man sich tief im Inneren sehnt.
Wenn ich früher über Sucht sprach, dachte ich an Menschen, die abhängig von Alkohol und anderen Drogen sind. Ich dachte an diejenigen, die ihren Platz in der Gesellschaft verloren haben oder aufs Spiel setzen. Über die Menschen, die "es nicht geschafft" haben. An Amy Winehouse, Kurt Cobain, Christiane F. oder meinen Großonkel, der sich mit sehr viel Alkohol viel zu früh ins Grab getrunken hat.
Und natürlich auch an die "Alkoholiker*innen", die mit ihrem Wein im Tetrapack auf der Parkbank sitzen. Vielleicht kamen mir noch Menschen in den Sinn, die sexsüchtig sind. Das Wort Spielsucht war mir auch immer ein Begriff. All diese Menschen sah ich jedoch immer am Rande oder gar außerhalb der Gesellschaft. Ich weiß – das ist traurig.
Dann gibt es die, die süchtig nach Schokolade sind. Aber darüber wird allgemein eher geschmunzelt. Schokolade ist ein Lebensmittel für die Seele. Wir geben unseren Kindern Schokolade. Wer zu viel Schokolade isst, ist doch nicht süchtig– oder? Doch, dahinter kann sich eine waschechte Zuckersucht verbergen.
Eigentlich kann man nach so ziemlich allem süchtig werden
Ein Mensch, der süchtig ist, nutzt einen bestimmten Kanal für sich (eine Verhaltensweise oder eine Substanz), um seinem Verlangen nachzugehen. Seiner Sehnsucht folgend versucht er sich durch Reibung einen Kick zu verschaffen. Ja genau – im sexuellen Sinne, aber auch durch die Reibung an Konventionen, die ihm gesellschaftlich auferlegt werden und ihm oft ein Hindernis in seiner freien Entfaltung als Individuum sind.
Wenn man süchtig ist, kann man durch viele Mittel und Wege versuchen, seine Sehnsucht zu stillen. Man kann alkoholabhängig sein, sich andere Drogen zuführen, den Großteil des Tages seine Zeit im Spielkasino verbringen (mittlerweile leider auch im Internet) oder seine Wohnung immer putzwütig sauber zu halten. Manche konsumieren jede Menge Pornos und suchen grundsätzlich den Kick in der „Liebe“.
Die Sucht nach Aufmerksamkeit und Anerkennung befriedigen viele Menschen oft beim („falschen“) Sex. Trotz (oder gerade wegen) der Emanzipation sind es leider viele junge Frauen, die ihre
Sucht nach Aufmerksamkeit und Bestätigung versuchen, beim Sex zu befriedigen. Beeinflusst durch die Pornowelt, die überwiegend noch immer für den männlichen Blick gemacht ist.
Vor allem aber junge Männer werden Opfer der Sex- und Pornoindustrie. Eine Entwicklung, die Therapiemaßnahmen verlangt, genau wie bei einer Drogenabhängigkeit. Pornos sind aus Sicht von Prof. Dr. Michael Musalek vom Suchtpotential her mit Heroin vergleichbar. Dazu mehr im Artikel von Britta Schultejans /jus DPA im Spiegel Online-Magazin.
Auch die die Konsumsucht fasst Fuß in unserer Gesellschaft. „Schätzungen gehen von 600.000 bis 800.000 Kaufsüchtigen aus“. Planet Wissen von Inés Carrasco.
Durch den Akt des Kaufens versuchen Süchtige ihre "Sehnsucht" zu befriedigen. Weil das natürlich nicht funktioniert, wird immerfort gekauft. Das Internet macht es ihnen noch einfacher.
Nicht wenige Betroffene landen so im finanziellen Ruin.
Die Sport- und Arbeitssucht ist vielleicht eine der am kompliziertesten zu behandelnden Süchte, denn beide Verhaltensweisen sind gesellschaftlich anerkannt. Fleißig und fit zu sein sind Verhaltensweisen, die viel Bewunderung bekommen, sie sind sogar Statussymbole. Wie soll man bitte eine Arbeitssucht in den Griff bekommen, wenn man doch weiterhin arbeiten muss?!
Es gibt viele Menschen, die in ihrer Arbeit etwas suchen und die Verbundenheit zu ihrer Partnerin, ihrem Partner oder ihren Kindern nicht mehr fühlen können. Vor allem Menschen in
sozialen Bereichen oder Selbstständige sind betroffen, weil Überstunden und ständiges „Dasein“ für Bedürftige als selbstverständlich gilt.
Wie soll man eine Arbeitssucht überhaupt erkennen? Wo liegen die Grenzen? Und Sport ist doch
eigentlich notwendig, um gesund zu bleiben. Wo genau liegt die Grenze zur Sucht? Bestimmte Süchte, wie zum Beispiel eine Alkoholsucht, kann man durch die Abstinenz mit neuen Gewohnheiten
überschreiben. Arbeiten jedoch muss man weiterhin und Sportreiben eigentlich auch – der Gesundheit wegen. Ganz zu schweigen vom Essen. Nahrung braucht der Mensch zum Überleben. Eine
Esssucht ist durch Abstinenz nicht in den Griff zu bekommen. Hier ist Abstinenz nicht die Lösung. Zum Glück gibt es auch Hilfe und spezielle Therapieprogramme für Menschen mit diesen
Süchten.
Alkohol ist nicht überlebenswichtig. Man kann ihn „einfach“ aus seinem Leben verbannen, wenn man sich gegen ihn entscheidet.
Ich dachte naiver Weise, ich lasse den Wein einfach weg, übe mich in Disziplin und lebe mein Leben einfach weiter – Pustekuchen! Es hat eine Weile gedauert, bis ich meine Gefühle, meine Cravings (Verlangen) und überhaupt mein ganzes Leben samt meiner Identität einigermaßen einordnen konnte. Ich musste erst einmal erkennen, dass ich in bestimmten Momenten ein Verlangen hatte. Dieses Verlangen ist nicht einfach mit dem Verzicht auf Alkohol erloschen. Es war noch immer da. Ich fing an mich zu fragen, was ich eigentlich wirklich brauche, wenn ich Verlangen (nicht unbedingt nach Alkohol) habe.
Mit meiner Abstinenz blieb erst einmal die Sehnsucht. Ich konnte mein Verlangen noch nicht stillen und habe versucht, es durch andere Dinge zu befriedigen. Und mit jeder süchtigen
Verhaltensweise, die ich ablege, gewinnt die Freiheit mehr Raum in meinem Leben.
Mit der Zeit habe ich gelernt, damit umzugehen. Ich habe erkannt, wonach ich mich sehne und habe andere Wege gefunden, um mein Verlangen zu stillen – meistens.
Wenn du dich jetzt noch fragst, ob du für immer süchtig bleiben wirst, auch wenn du es schaffst vom Alkohol wegzukommen, dann kannst nur du dir die Antwort geben. Es ist wichtig, dass du
erkennst, welche Ursache hinter deiner Sucht steckt, die sich in abhängigem Verhalten oder Konsum ausdrückt.
Es gibt Menschen, die trotz lebenslanger Abstinenz immer noch das Verlangen nach Alkohol und das Gefühl haben, auf etwas verzichten zu müssen. Ich weiß aber auch von Menschen, die es schaffen, sich komplett von ihrer Sucht zu befreien.
Das hat dann nicht allein mit der Abstinenz zu tun, mit der du schon enorm viel geschafft hast! Es hat mit dir zu tun. Mit der Fähigkeit zu vertrauen und loslassen zu können.
Dem Zugriff auf deine inneren Ressourcen und deine innere Stärke. Es hat mit der Erkenntnis zu tun, dass du Bedürfnisse hast und sie für dich definieren kannst und den Glauben daran, sie erfüllen zu können. Dir zu vergeben und dich so anzunehmen, wie du wirklich bist.
Es braucht den Glauben daran, dass es möglich ist, sich von der Sucht zu befreien – ganzheitlich. Mit der Entwicklung eines natürlichen Gefühls für deine Sehnsucht und der Fähigkeit ihr zu folgen, um dich auf den richtigen Weg zu machen.
Dein Weg in Richtung Freiheit.
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