Die Angst davor aufzuhören

Leben ohne Alkohol

Ich wurde vor kurzem gefragt, was genau die Menschen dazu bewegen könnte, ihren Alkoholkonsum einzuschränken oder gar aufzugeben. Was ist besser an einem alkoholfreiem Leben?

Ich kann das nur aus der Perspektive derjenigen beantworten, die ein Problem mit Alkohol haben. Ich glaube, dass jeder Mensch mit einem Alkoholproblem weiß, dass irgendetwas in seinem Leben besser laufen könnte, wenn er den Alkohol einschränken oder weglassen würde. Ein Problem mit Alkohol hat man, wenn man die Kontrolle über den Konsum verloren hat. Und wenn man es hat, dann weiß man es.

Verhalten, auch süchtiges, ist individuell und so ist die Antwort auf die Frage. Ich erlaube mir jedoch ein paar Aussagen dazu von Menschen zusammenfassen, die sich gegen den Alkohol entschieden haben: Sie können endlich klar sehen, kommen in den Genuss des Freiheitsgefühls und führen ein selbstbestimmteres Leben. Sie haben viel mehr Energie und fühlen sich fitter.

 

Sich der Frage zu stellen, wie der erste Schritt in ein alkoholfreies Leben genau aussehen könnte, erfordert in zunehmende Maße Mut, je länger und regelmäßiger man konsumiert.

 

Warum ist der Gedanke an ein alkoholfreies Leben so angsteinflößend?

Warum scheint es schier unmöglich auf diese Substanz zu verzichten? Stell dir vor, du würdest aus irgendwelchen Gründen keine Äpfel mehr essen dürfen. Du müsstest sie von deiner Einkaufsliste streichen. Würde dir das in irgendeiner Form Angst machen?

Meine Tante war eine Zeit lang regelrecht süchtig nach Äpfeln. Sie hätte am liebsten täglich fünf davon gegessen. Nun gut, Äpfel sind gesund, wahrscheinlich hat ihr Körper ihr signalisiert, dass ein Mangel besteht und deshalb Heißhunger auf die Vitaminbombe ausgelöst. So funktioniert das aber beim Alkohol nicht. Der Körper reagiert beim ersten Glas mit Sicherheit ablehnend auf dieses Gift. Hilfreich wäre es, dieses Signal zu erkennen und Alkohol zu meiden. So ist es aber leider nicht. Wir trainieren es uns regelrecht an, Alkohol zu mögen. Und zack - stellt sich die Gewohnheit ein. Und darauf dann zunehmend eine Abhängigkeit.

Aber lassen wir das mal so stehen. Wenn du nun als „trockene Apfelabhängige“ raus in die Gesellschaft gehst, hättest du dann Scham zu sagen: „Nein, ich darf keine Äpfel mehr essen, weil ich…?“

 

Sicher nicht, denn auf übermäßigem Apfelkonsum liegt kein Stigma. Auch wenn Äpfel überall im Supermarkt und auf Wochenmärkten, an Bäumen zu finden sind, sie sind kein Mittel zur gesellschaftlichen Verbindung. Menschen treffen sich nicht zum Feiern, um Apfelmus zu konsumieren. Sie trinken Alkohol. Denn Alkohol berauscht. Alkohol „verbindet“. Ich setze das in Anführungsstriche, weil ich meine, dass das eine Illusion ist.

Aber warum habe ich so lange gebraucht, um den entscheidenden Schritt, nicht mehr zu trinken, zu wagen? Wovor genau hatte ich so große Angst? Warum habe ich auf meine Körpersignale nicht mehr gehört?

Auf die Substanz bezogen war es die Sucht nach der Wirkung, die der Alkohol auf meinen Organismus entwickelt hatte – ganz klar. Ich brauchte den Alkohol, um für den Moment ein bestimmtes Gefühl erreichen zu können. Die Toleranzentwicklung sorgte dafür, dass ich immer mehr Alkohol brauchte, um diesen Zustand zu erreichen. Ich hatte Angst, weil ich spürte, dass das Verlangen nach Alkohol wuchs und ich die Kontrolle zunehmend verlor. Mir wurde bewusst, dass ich meine Gesundheit und somit auch mein Leben, welches eigentlich etwas Wunderbares für mich bedeuten könnte, schlicht aufs Spiel setzte. Ich wusste, dass ich mich systematisch und aktiv vergifte. Aber die Funktion der Selbsttäuschung wuchs mit diesem Bewusstsein und ich geriet immer tiefer in die Abhängigkeit.

 

 

 

Hinter der Angst, mein Verhalten zu reflektieren, steckte jedoch noch etwas Größeres. Nämlich die Angst vor der Erkenntnis, dass, wenn ich der Wahrheit ins Gesicht blickte, eine logische Konsequenz folgen müsste: meinen Konsum einzuschränken oder gar aufzugeben. Und dann wäre ich nicht mehr Teil des großen Ganzen. Ich könnte nicht mehr an gesellschaftlichen Zusammenkünften teilnehmen, ohne einen Stempel mit der Aufschrift „Alkoholikerin“ zu tragen. Und dieser Stempel bedeutete tiefste Scham für mich.

Außerdem glaubte ich keinen Funken daran, dass ich ohne Alkohol Spaß am Leben haben könnte. Das muss man sich mal vorstellen: das Leben ist nur lebenswert mit Alkohol. Das ist aus meiner heutigen Sicht so ungeheuerlich absurd, dafür finde ich keine Worte.

 

Ich erinnere mich jedoch noch genau an das lähmende Gefühl der Scham, wenn ich nur im Netzt nach Hilfe gegoogelt habe. Jeden Verlauf habe ich direkt gelöscht. Meistens war ich auch alkoholisiert, während ich suchte, als wollte ich im nüchternen Zustand am nächsten Tag davon nichts mehr wissen. Aber manchmal, wenn ich der Verzweiflung ausgeliefert war, bekam ich Panik. Ich hatte unbeschreibliche Angst davor, die Kontrolle zu verlieren. Aber auch davor, nicht mehr dazuzugehören. Ich glaubte, ohne Alkohol würde ich einen Teil meiner Identität aufgeben.

 

Es war für mich unvorstellbar, ein Gebäude zu betreten, in dem sich Alkoholiker*innen treffen und sich gegenseitig ihr Schicksal beschreiben. Ich weiß, dass war vorteilhaft gedacht. Aber das genau ist der springende Punkt. Dieses Stigma ist, trotz wachsender Aufklärung, tief im gesellschaftlichen Denken verankert. Es gibt entweder die Normaltrinker*innen, die den Konsum kontrollieren können oder diejenigen, die daran scheitern.

Alkoholiker*innen sind in jener Schublade untergebracht, in der gescheiterte, willensschwache Menschen zu finden sind, die diesen Stempel tragen. Solange du diesen Stempel nicht trägst, hast du quasi einen Freifahrtschein so zu konsumieren, wie es dir gefällt. Du darfst nur nicht auffallen.

 

Ich trinke heute keinen Tropfen Alkohol mehr und fühle mich genesen. Ich trage diesen Stempel nicht. Manche Menschen meinen ihn aber zu erkennen. Ganz schwach, aber er ist auf meiner Stirn eingebrannt. Ich habe mich geoutet, deshalb scheint Fakt, dass ich früher oder später einen Rückfall erleide. Ich kann den Menschen, die sich um mich sorgen, keine Vorwürfe machen. Ich verstehe sie – es gibt sie nun mal – die Statistik, die Rückfallquote und die Erfahrungen unter den Mediziner*innen mit alkoholkranken Menschen.

 

 

Foto von Matthew Moloney auf Unsplash

Als ich noch trank, habe ich mich viele Jahre vehement geweigert, nicht diesen Stempel aufgedrückt zu bekommen. Für immer krank? Auch dann noch, wenn ich nichts mehr trinke? Damit konnte und wollte ich mich nicht anfreunden. Ich entschied mich noch Jahre so weiterzumachen, bis ich die ersten körperlichen Symptome hatte. Dieser schleichende Prozess war mir bewusst. Aber die Fähigkeit zur Selbsttäuschung wuchs mit dem Abhängigkeitsgrad. Es fasziniert mich immer noch, wie ich mir auf vielfältige und äußerst kreative Art mein Lügenkonstrukt um mich herum aufbaute und sogar selbst daran glaubte. Dies war mein Leben. Ich hatte eine Scheinidentität entwickelt.

 

Es gab in meiner ganzen Trinklaufbahn drei Phasen, in denen ich versucht habe, mir Hilfe zu holen. Einmal rief ich bei einer Suchtberatungsstelle an und bat um ein Gespräch. Die Dame lud mich in ihr Büro in einer Einrichtung für betreutes Wohnen ein. Sie wollte, wie sie mir später erklärte, sehen, ob mir das Anliegen ernst war und ich mich traue dort zu erscheinen. Dort begegnete ich Menschen, die für mich den Anschein erweckten, ihr Leben schon aufgegeben zu haben. Sie haben sich durch den Alkohol alles im Leben genommen, was in meinen Augen die Würde eines Menschen zum Ausdruck bringen kann. Ich war geschockt.

Diese Menschen versuchten zu überleben. Und wenn ich nicht sofort aufhören würde, würde ich genau hier landen. Dann hätte ich alles verloren. Ich war gefangen in meiner Sucht und hatte gleichzeitig viel zu große Angst davor, die Tür daraus zu nehmen. Denn dort würde ich mich einem Stigma hingeben müssen. Ich wäre eine von denen, die es nicht geschafft haben, den Alkohol zu bezwingen.
Ein unbeschreibliches Gefühl der Hilflosigkeit überfiel mich. Die Dame bot mir an, die Selbsthilfegruppe zu besuchen. Ich entschied mich dagegen. Alternativ bot sie mir an, kontrolliertes Trinken auszuprobieren. Vielleicht hat das Sinn für die Bewohner*innen des Hauses gemacht, für mich war es jedoch wertlos, denn das tat ich ja ohnehin schon. Ich versuchte die ganze Zeit meinen Konsum zu kontrollieren. Erst ab 20:00 Uhr, nie vor meiner Tochter, keine ganze Flasche Wein vor einem wichtigen Arbeitstag, usw. Ich wusste, hier will ich nicht landen. Also kehrte ich dem Gebäude den Rücken und vergaß. Ich kontrollierte meinen Konsum wieder für eine ganze Weile – Tag für Tag.

 

Ein anderes Mal sprach ich mit meiner damaligen Hausärztin. Sie betreute mich und meine Familie schon sehr lange. Sie wirkte etwas geschockt, versuchte es jedoch zu verbergen. Ihre Reaktion hat mich in keiner Weise aufgefangen. Sie hatte auch keinen Lösungsvorschlag für mich. Ein anderer Hausarzt zeigte sich auch unsicher als ich mich vor ihm geoutet habe.  Er war äußerst überrascht darüber, wieviel ich konsumierte, weil ich nicht dem Bild einer „Alkoholikerin“ entsprach. Er schickte mich zu den anonymen Alkoholikern. Anscheinend gab es nur diese eine Anlaufstelle. Für ihn war das damit erledigt.

Ich muss dir nicht erklären, wie viel Energieaufwand es mich kostete und wievielt Scham ich überwinden musste, mich meinem Arzt mitzuteilen. Das Herz schlug mir bis zum Halse. Ich brachte wirklich allen Mut auf, in der Hoffnung, hieraus könnte ein Lösungsansatz entstehen. Ich wünschte mir so sehr aufgefangen und vor allem verstanden zu werden.

Die AAs hatte ich im Netzt schon über ein Forum kontaktiert. Sehr schnell bekam ich die Rückmeldung, dass ich hier nichts zu suchen hätte, weil ich mich nicht entschieden vom Alkohol verabschiedet hätte. Ich fühlte mich aussätzig. Ich fühlte mich wertlos. Ich dachte, ich habe eine Krankheit, die nie wieder zu heilen ist. Ich dachte, ich müsste für immer und ewig auf etwas verzichten, was allen anderen Menschen im Leben Glück beschert. Nämlich dazu in der Lage zu sein, Alkohol kontrolliert? zu konsumieren – und dazuzugehören!

 

Irgendwie konnte ich mir keinen Namen dafür geben, was ich war. Ich war weder eine „Normaltrinkerin“ noch eine „richtige“ Alkoholikerin. Aber trotzdem wünschte ich mir Hilfe, weil ich das Gefühl hatte, es allein nicht daraus zu schaffen.

Alles, was ich mir damals gewünscht habe, war ein Weg daraus, der nicht auf Kosten meines Selbstwertgefühls ging. Ich wollte nicht mein Leben lang Selbsthilfegruppen besuchen, um dem berühmten Rückfall vorzubeugen. Ich wollte nicht mit einem Stempel auf meiner Stirn durchs Leben laufen, der mich als Alkoholikerin auszeichnet – zwar trocken, aber für immer Alkoholikerin.

Es gibt heutzutage sicherlich Anlaufstellen, die ihre Hilfsangebote überholt haben. Weniger konservativ und konventionell, dafür ganzheitlicher und an die Selbstwirksamkeit eines Individuums glaubend. Und auch Ärzt*innen, die uns wertschätzend zuhören und auffangen. Später bin ich diesen begegnet. Das ist schön. Aber ein gesellschaftliches Stigma lässt sich trotzdem nicht in ein paar Jahrzehnten auslöschen.

 

Ich habe so lange weitergemacht, bis der Leidensdruck für mich zu groß wurde. Ich befand mich an der Schwelle zur körperlichen Abhängigkeit. Erste Symptome machten mir wirklich Angst. Außerdem hatte ich das Glück, eine neue kleine Familie aufbauen zu können und ich wusste, dass es nur zwei Wege für mich gibt: Weitertrinken und diese Chance zerstören oder aufhören und mich für mein Leben mit meiner Tochter und meinem Mann zu entscheiden. Gott sei Dank bin ich irgendwie in Verbindung mit mir selbst geblieben. Ich habe diese Stimme ernstgenommen und allen Mut zusammengefasst, der mir gegeben war. Aber dazu musste ich erst einiges über den gesellschaftlichen Umgang mit Alkohol verstehen.

Heute will ich keinen Alkohol mehr trinken. Ich vermisse ihn nicht. Ich vermisse rein gar nichts, was ich einst damit verbunden hatte: mein komplettes Leben. Auf dieser Seite, fernab von der „Alkoholwelt“ gefällt es mir besser. Ich bin froh, dass ich es damals wagte, diesen Schritt zu machen.

 

Ich möchte mich hier nicht aufs hohe Ross setzen. Meine Absicht ist, dir Mut zu machen. Ich versuche daran zu arbeiten Scham und Stigma aufzulösen. Ich möchte diejenigen dabei unterstützen, die wissen, dass sie ein Problem haben, sich aber noch nicht trauen, richtig hinzuschauen. Oder schon genau hinschauen, aber den ersten Schritt nicht wagen, weil die Angst vor der vermeintlichen Isolation so groß ist. Es ist sogar mehr: Es ist die Auflösung einer Identität, die uns lange einen Platz in unserer Gesellschaft, in unserem Umfeld gegeben hat. Kein Wunder, dass die Angst so groß ist. Ich kann nicht leugnen, dass es keiner Anstrengung bedarf, sich von dieser Scheinidentität zu befreien. Aber es ist nötig, um sich von Konventionen zu befreien, die vielleicht nicht in Wahrheit unserem Wesen und unseren Werten entsprechen.

Die Gesellschaft und die Struktur rund um die Alkohollobby ist nicht sonderlich hilfreich dabei. Alkohol wird mehr als akzeptiert, sogar verniedlicht und verharmlost. Viele Menschen haben ein Problem mit Alkohol und stecken alle in derselben Falle. Es gibt noch keine Ebene, auf der die Problematik offen und ehrlich kommuniziert werden kann, ohne Scham und Vorurteile.

 

Was kann also so viel Mut machen, diesen gigantischen und bedeutungsvollen Schritt zu tun? Sich selbst gegenüber ehrlich zu sein und sich anderen gegenüber zu outen?

Es ist eine Entscheidung, die du nur für dich treffen kannst. Du brauchst den Kontakt zu dir selbst, der dir dabei hilft, in dich und den Fluss des Lebens zu vertrauen. Du brauchst Mut dafür. Eine große Portion Neugier auf ein neues aufregendes und vor allem anderes Leben. Und du brauchst das Wissen über Alkohol und seine Funktion und über die Folgen des Konsums in einem ungesunden festgefahrenen System, das schon sehr lange Bestand hat.

Du wärst dann ein*e Rebell*in. Du würdest aus der Reihe tanzen. Viele deiner Probleme würden sich auflösen. Du würdest viel neue Energie gewinnen und einen klaren Kopf für die wichtigen Entscheidungen in deinem Leben bekommen. Du würdest alte Fähigkeiten in dir wieder zum Leben erwecken, die lange unter einer Hülle vergraben lagen.

Gibt es in dir auch eine Sehnsucht, einen Glauben daran, dass es eines Tages wieder besser werden kann? Dass du dann dein Glück finden würdest, wenn du irgendwann den krankhaften Kreislauf deines Konsums durchbrechen könntest?

Ich glaube, du weißt, dass das nicht von allein passieren wird. Es erfordert einen Wandel. Die Aufrichtigkeit und den realistischen Blick auf deine Situation. Es braucht absolute Ehrlichkeit dir selbst gegenüber. Nur so kannst du aus dem Teufelskreis herausfinden.

 

 

“Was wir am meisten fürchten, ist normalerweise das, was wir am meisten tun müssen.“ Ralph Waldo Emerson

 

Und trotzdem: Die Angst davor ist groß. Das verstehe ich sehr gut. Deshalb ist die letzte Zutat zur Motivation: Du bist nicht allein. Sehr vielen anderen Menschen da draußen geht es wie dir. Du würdest Teil einer Bewegung werden, die sich für ein Leben ohne Alkohol ausspricht und vielen weiteren Menschen Mut macht, genau hinzuschauen.

Sich vom Alkohol zu trennen, ist ein Schritt zur Entwicklung des eigenen freien Individuums. Ein Prozess der Ablösung von einer Autorität in ein eigenständiges selbstbestimmtes Leben. Das erfordert Mut und Kraft. Aber es ist der einzige richtige Schritt in Richtung Freiheit. Ich wünsche mir, dass ich dir etwas Mut machen kann und du vielleicht sogar etwas Lust verspürst, etwas Besonderes zu wagen.

 

Einfach, weil du es wert bist.

 

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