Alkohol und Depressionen

Der Weg geht weiter

Dieser Text ist für all jene, die es geschafft haben, endlich dem Alkohol den Laufpass zu geben und trotzdem nicht so glücklich werden können, wie es so viele andere im Internet beschreiben.
Oder für diejenigen, die nüchtern ganz zufrieden bis glücklich waren und plötzlich in ein Loch gefallen sind. Oder für die, die Angst haben, ohne Alkohol an Schichten zu gelangen, die schmerzhaft sein könnten.

 

Als ich ein Jahr nüchtern war, wurde mir langweilig. Ich hatte gefühlt alles im Repertoire, was ich für mein zukünftiges Leben ohne Alkohol brauche. Ich habe mich intensiv mit mir auseinandergesetzt, aber diese graue Wolke ging einfach nicht weg. Da war immer noch diese undefinierbare Sehnsucht in mir. Ich war immer noch auf der Suche nach einer Antwort auf meine große Frage im Leben. War das die „Sucht“, die immer noch in mir steckte? War es eine Depression?

 

 

Ich glaube fest daran, dass jeder Mensch sein Bestes gibt, um der Antwort auf seine ganz individuelle Frage im Leben näher zu kommen.

Vielleicht fragst du dich auch, warum „alle“ um dich herum nüchtern werden und dabei so glücklich sind. Vielleicht hast du das Gefühl, als Einzige*r dieses Ziel nicht erreichen zu können?
Oder du fragst dich, ob es überhaupt stimmt, dass du ohne Alkohol glücklich werden kannst.

 

Dieser Blog soll dir Mut machen. Ich möchte dir die Hand reichen und erzählen, wie schön es ist, nüchtern zu sein. Das Leben ohne Alkohol bleibt trotzdem ein ganz „normales“ Leben – mit Höhen und Tiefen. Nüchtern zu sein bedeutet nicht, jeden Tag aus dem Bett zu springen und mit einem Yogi-Tee die Nase in die Sonne zu halten, das Glück zu spüren und den Meditations-Sitz zu beherrschen. Ganz nach dem Motto: „Das Glas ist halb voll und die Sonne scheint immer!“

Nüchtern zu sein, bedeutet pures Leben –
mit all seinen Facetten, Gefühlen und Herausforderungen.

Es gibt sie es immer noch die Tage, an denen ich am liebsten im Bett bleiben möchte.
Es gibt immer noch Tage, an denen ich glaube, nichts wirklich hinzubekommen oder das Gefühl habe, dass mich niemand versteht. Es gibt Tage, an denen spüre ich Scham, Schuld und Hilflosigkeit.

Hört sich das nicht nach einem ganz „normalen“ Leben an? Diese Tage gehören zum Leben dazu. Wir haben als Süchtige nur nicht gelernt, damit umzugehen. Wir haben uns ja immer betäubt, bevor wir uns den unangenehmen Dingen stellen konnten.
Und dabei meine ich nicht, dass man sich als Trinker*in keinen Herausforderungen stellen kann. Ich habe trotz Alkoholkonsum einiges auf die Beine gestellt. Aber ich habe mich dabei nicht gespürt.

 

Zu spüren, wie traurig oder auch schön etwas wirklich ist, dass das Gefühl der Wut, der Enttäuschung und Überforderung nur aus mir selbst kommt, das habe ich erst nüchtern erfahren. Sich selbst spüren zu können und aus diesem Zustand heraus Entscheidungen zu treffen – das ist nüchtern und das möchte ich nicht mehr missen.

Als ich etwa anderthalb Jahre nüchtern war, bin ich zusammengebrochen und war wie gelähmt. Ich konnte einfach nicht verstehen, warum alle anderen da draußen so glücklich nüchtern sind – alle außer mir.

Meine Diagnose lautete Depression. Ich war wirklich verzweifelt. Endlich war ich nüchtern, habe gut für mich gesorgt, mich an alle Regeln gehalten und brav meine Rituale durchgeführt. Außerdem habe ich eine wunderbare Tochter, lebe in einer glücklichen Beziehung, habe eine tolle Familie, ein Dach über meinem Kopf und trotzdem diese Depression!?! Warum?

 

War ich wieder einmal gescheitert?

Und vor allem: War ich schuld daran? Ich fand mich alleine in einer Blase wieder: Isolation, Stigma, Scham, Hilflosigkeit. Genau wie damals, als ich die ersten Schritte in mein Leben ohne Alkohol wagte.

Mit der Diagnose Depression konnte ich erst einmal Verantwortung abgeben. Diese Diagnose, mit all ihren üblichen Behandlungsmethoden fühlte sich allerdings bald wie eine Schablone an, die nicht auf mich abgestimmt war. Ich verstand, dass ich auch hier wieder meinen eigenen Weg finden musste. Zum Glück half mir ein sehr kompetenter Arzt, der an meine Selbstwirksamkeit appellierte.

Eine Alkoholabhängigkeit kommt gerne gepaart mit anderen unangenehmen Themen im Leben. In Deutschland sind etwa 30% der alkoholabhängigen Menschen von einer Depression betroffen.

Klinisch spricht man hier von Komorbidität. Einige Kliniken berücksichtigen dies bei der Behandlung ihrer Patienten und Patientinnen. Wie wichtig!

Die Erfahrung, dass Sucht getrennt von Depression oder anderen psychischen Störungen behandelt wird, habe auch ich gemacht. Wer süchtig ist, kommt in einen Pott, wer depressiv ist, kommt in einen anderen. Das ist nicht richtig. Ich habe es nicht geschafft, meine Depression von meiner Suchtgeschichte zu trennen. Erst die Einsicht, dass beides ein und denselben Ursprung hat, hat mich auf den richtigen Weg gebracht. Natürlich kann bei lang anhaltendem Alkoholkonsum eine Depression die Folge sein. Und wer eine Depression hat, trinkt möglicherweise Alkohol, um sich selbst zu „medikamentieren“ – ein Teufelskreis.

 

Eine Depression bedeutet nichts anderes, als sich von seiner wahren Gefühlswelt und von seiner Umwelt abzuspalten. Und so geschieht es auch bei einer Abhängigkeit. Was war zuerst da, die Henne oder das Ei? Für mich war es nicht wichtig, das zu beantworten. Es ist ein und dieselbe Suppe.

Mir war wichtig, herauszufinden, was mir der Alkohol gegeben hat.

Ich habe herausgefunden, dass ich im Alkohol ein Mittel gefunden habe, mich von meinen wahren Gefühlen abzukapseln. Eine Abspaltung von mir selbst und zunehmend von meiner Umwelt.

 In unserer Gesellschaft, die es uns sehr schwer macht, artgerecht zu leben, ist eine Sucht, eine „Anpassungsfunktion für Entwurzelte Individuen“, wie Dr. Gabor Maté sich in seinem Buch Im Reich der hungrigen Geister ausdrückt. Er sieht den Ursprung von Entwicklungsstörungen, wie z.B. einer Sucht in der Kindheit. Dort kommt es zu Störungen in der Bindungsphase, die einen Mangel mit sich ziehen, den wir im Leben versuchen auszugleichen, weil wir als Mensch stets danach streben under Wohlbefinden zu optimieren.

 

 

 

Als süchtiger Mensch, war ich es gewohnt vor schwierigen Emotionen zu flüchten. Ich bin sehr lange gekonnt um mein eigentliches Problem herumgetanzt, also um den „Ursprung meines Schmerzes“. Der Alkohol war dabei das Mittel meiner Wahl. Deshalb, so findet Dr. Gabor Maté, ist es so wichtig, den Schmerz zu heilen, der das Verhalten steuert, anstatt allein das Verhalten von süchtigen Menschen zu ändern. Er sagt:

„Sucht hat biologische, chemische, neurologische, psychologische, medizinische, emotionale, soziale, politische, ökologische und spirituelle Grundlagen.“

 

Sucht ist individuell

Sucht ist somit ein wirklich komplexer Zustand, der die Aufmerksamkeit auf ganzheitlicher Ebene verdient.
Es reicht nicht aus, eine Alkoholabhängigkeit allein psychologisch betrachten. In seinem Buch beschreibt Maté die neurochemischen Abläufe im Gehirn sehr ausführlich. An dieser Stelle nur so viel: Ein Mangel in der Bindungsphase kann zu einer Störung  der neurochemischen Vorgänge in unseren Gehirnschaltkreisen führen, die später an unserem Suchtverhalten beteiligt sind.

Mir ist wichtig zu sagen, dass es fast unmöglich ist in einer nicht „artgerechten“ Gesellschaft einen Mangel zu vermeiden. Das kommt selbst bei sehr liebevollen und fürsorglichen Eltern und Bezugspersonen vor. Das Schöne an der ganzen Geschichte ist, dass unser Gehirn dazu fähig ist, sich zu verändern. Es gibt einen Weg aus der Sucht. Dieser ist und bleibt individuell.

Solltest du vor der Entscheidung für ein nüchternes Leben stehen oder gerade am Anfang, möchte ich dir die Sorge nehmen, dass du große Probleme bekommen wirst. Nicht jeder alkoholabhängige Mensch leidet an Depressionen und würde es auch als Folge von Abstinenz nicht. Und wenn doch, gilt: Es kann nur besser werden. Alles heilt zu seiner Zeit.

Worauf du dich freuen kannst, ist, zu lernen, mit Konflikten umzugehen und eigene Lösungen zu kreieren. Aus einem Gefühl heraus, das für dich absolut stimmig ist. Denn das Ausmaß unseres Stresses hängt meist weniger von äußeren Umständen ab als von unseren Fähigkeiten, psychisch und emotional für uns zu sorgen.

 

 

Ich möchte dir eines mit auf den Weg geben: Halte an deiner Entscheidung fest!

 

Dort, wo du dich jetzt befindest, ist nicht richtig oder falsch. Es gibt keine Schablone, die dich durch dein Leben führen kann. Der Weg geht weiter.

 

 

Wenn du schon länger dieses lähmende Gefühl mit dir trägst, dann weißt du nun, dass nichts falsch mit dir ist. Das sind ganz normale Vorgänge. Du glaubst, du leidest an Depressionen? Hol dir unbedingt Hilfe bei einem Arzt oder einer Ärztin. Es gibt einen Weg da raus. Je früher, desto besser.

 

 



Du hast Fragen? Schreibe mir gerne!

 

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