"Auf die Nüchternheit!"
„Nicht auf das Ergebnis in allen Dingen blickt der Weise, sondern auf die Entscheidung, die er traf.“
Aus dem Buch von Charles Pépin, frei nach Seneca
Mein Mann ist von Geburt an nüchtern. Als Jugendlicher hat er sich beim ersten Kontakt mit einem Glas Bier auf die natürliche Reaktion seines Körpers auf
Alkohol verlassen. Es hat ihm nicht geschmeckt und er hat sich dagegen entschieden, Alkohol zu konsumieren. Er kennt die Welt im berauschten Zustand nicht.
Und trotzdem kann er mit Leichtigkeit ins Hier und Jetzt finden und den Moment im vollen „Rausch“ genießen.
Seitdem ich nüchtern bin, kann ich mich immer mehr mit dieser Leichtigkeit des Seins identifizieren. Ich meine diese Leichtigkeit verbunden mit Freude, mit der wir als Kind viel mehr verbunden waren. Den Kick, den ich mir durch Drogen (in erster Linie durch Alkohol) verschafft habe, brauche ich nicht mehr. Das „Glück“ habe ich dadurch nie erreicht. Im Gegenteil: Ich habe es verlernt auf natürliche Weise Freude zu empfinden. Echte Freude und wahre Glücksmomente erlebe ich erst wieder, seit dem ich nüchtern bin. Es war die beste Entscheidung in meinem Leben, keinen Alkohol mehr zu trinken.
Aber erst war da die Angst. Allein die Vorstellung an ein Leben ohne Alkohol machte mir einfach nur Angst. Zumal ich es auch schlicht für unmöglich hielt, dass ich es schaffen könnte mich aus meiner Sucht zu befreien.
Was steckt eigentlich hinter dieser Angst vor der Entscheidung keinen Alkohol mehr zu konsumieren? Die Angst davor „nicht mehr dazu zu gehören“, oder NIE wieder zu trinken?
Den Schritt, in eine uns unbekannte Welt zu wagen, in der wir von Alkohol nur so umgeben sind, erfordert wirklich viel Mut. Nie wieder dieses schöne, geschwungene Glas mit der goldenen oder rubinroten Flüssigkeit in den Händen halten zu können. Nie wieder im Frühling das erste Weizen im Biergarten trinken zu können.
Alkohol war uns scheinbar stets ein verlässlicher Partner.
Er war uns ein treuer Begleiter in allen Lebenslagen und bei jeder Gelegenheit. Ob beim Essen, in intellektueller Gesprächsrunde, bei feucht fröhlichen Tanzabenden, in Gesprächen mit der Freundin über den Liebeskummer hinwegtrinken, oder einfach beim Einklingen des „wohlverdienten“ Feierabends. Am Geburtstag unserer Kinder oder zur Begrüßung eines Neugeborenen in der Familie prosteten wir uns wie selbstverständlich zu.
Ein „Sektchen“ vor unserer „Mädels“- Fahrradtour, das Bier in der linken, die Grillzange in der rechten Hand, der Whiskey am Kaminfeuer oder der Grappa nach einem guten italienischen Essen,
der Schnaps nach einem nervenaufreibenden Erlebnis oder nach einem viel zu fettigem Essen... usw.
Unser Gehirn ist so programmiert, dass Situationen und unsere konzipierten Bilder über unser Leben und unseren Alltag ganz automatisch ablaufen. Alkohol gehört in unserer Gesellschaft zum
Leben dazu, wie die Kerzen auf den Geburtstagskuchen.
Niemand denkt wirklich über sein Konsumverhalten nach. Es sei denn, man hat ein Problem oder der Konsum ist nicht mehr mit seinem eigenen Wohlbefinden im Einklang. Oder man ist schwanger,
dann trinkt man (hoffentlich!) gar keinen Alkohol.
Es liegt in der Natur des Menschen, nach Glück zu streben.
Wir versuchen stets unser Wohlbefinden zu fördern und unsere körperlichen und seelischen Grundbedürfnisse zu sichern. Dazu gehört auch das Streben nach Sicherheit und Zugehörigkeit.
„Alle“ tun es. Und wenn ich es nicht mehr tue, dann gehöre ich nicht mehr dazu. Wenn ich keinen Alkohol mehr trinke, dann stehe ich ganz allein da. Das ist ein beängstigender Gedanke. Ganz
alleine am Rand stehen zu müssen und dabei zugucken zu müssen, wie alle anderen so viel Spaß haben.
Für uns Menschen, als soziale Wesen, ist es ein ganz natürliches Bedürfnis dazugehören zu wollen. Wir streben danach uns der Gruppe anzupassen. Und wenn die Gefahr besteht, ausgeschlossen zu
sein, bekommen wir Angst. Seit vielen Jahrhunderten hat dieses Verhalten unsere Existenz gesichert.
Ich glaube, diese Tatsache hat viel mit der Angst zu tun, die wir vor einem Leben ohne Alkohol haben. Der Angst, nicht mehr dazuzugehören.
Photo by Antonello Falcone on Unsplash
Auch Alkohol verbindet uns mit der Gruppe. Menschen mit einem Alkoholproblem haben ihr Leben rund um den Alkohol aufgebaut. Viele haben auch einen „trinkfesten“ Freundeskreis. Jeder
kennt die Reaktionen darauf, wenn man mal nichts trinkt. Man fällt auf, es kommt nicht immer gut an. Dazu kommt, dass alle erfahren würden, dass man „Alkoholiker*in“ ist.
Aber ist es wirklich so? Muss man nüchtern auf den ganzen Spaß im Leben verzichten? Und vor allem: Wird man nicht mehr dazugehören?
Nüchtern betrachtet kann ich das mit einem klaren Nein beantworten. Wie auf allen Ebenen verfälscht Alkohol unsere Empfindungen und Wahrnehmungen. Was wahre Zugehörigkeit bedeutet, habe ich erst nüchtern erfahren.
„Man selbst zu sein bedeutet manchmal, den Mut zu finden, für sich allein zu stehen, und zwar völlig für sich allein…
… erst wenn wir voll und ganz zu uns selbst gehören und voll und ganz an uns glauben, können wir wahre Zugehörigkeit
erfahren." Brené Brown: Entdecke deine innere Stärke
Auch ich hatte damals große Angst. Zum Glück fand ich den Mut den Schritt in eine neue Welt zu wagen.
Ich muss mich nicht mehr mit Alkohol in Stimmung bringen. Ich nehme die Dinge genau so, wie sie auf mich zukommen. Klar und unverfälscht.
Ich finde es super, wenn ich mich nach einer Feier am nächsten Morgen an alles erinnern kann! Oder im Restaurant nicht ständig auf der Lauer sein zu müssen, ob mein Glas noch ausreichend
gefüllt ist und Ausschau nach der Bedienung zu halten. Das war mir nämlich zu Trinkzeiten wichtiger als mein Gegenüber – wie traurig.
Ich muss mir auch nicht mehr ständig darüber Gedanken machen, wie ich nach Hause komme, wenn ich ausgehe. Beim Essen wirklich etwas „Leckeres“ zu trinken – ich weiß, ich konnte mir auch nie vorstellen, dass es etwas leckereres gibt, als ein gutes Glas Wein – oder einfach nur ein Glas Wasser zu bestellen und mit allen Sinnen das Essen genießen zu können. Das ist wunderbar.
Auch nicht darüber nachdenken zu müssen, wo ich meinen Wein heute kaufe, und ob auch noch genug zu Hause ist. Bei kulinarischen Ereignissen muss ich nicht mehr so tun, als ob der Wein auf geradezu poetische Weise die Geschmackserlebnisse vollkommen macht oder mir schon beim Kochen einen „Schwips“ antrinken.
Die heimlichen Gänge zum Altglascontainer – die gibt es nicht mehr!
Meine Haare sehen gesünder aus, meine Haut ist besser geworden, ich habe weniger blaue Flecken am Körper. Ich schlafe besser und habe fast keine Heißhunger-Attacken mehr. Ich schmecke mein
Essen intensiver und ernähre mich gesünder.
Nüchtern zu sein verschafft so viele Vorteile im Leben. Warum hatte ich nur so eine Angst davor es mir endlich gut gehen zu lassen?
Am Anfang steht nun mal diese Angst vor dem Verzicht und dem Ungewissen. Ich glaube, eine der wichtigsten Fähigkeiten, die man bei übermäßigem Konsum verliert, ist die Fähigkeit sich selbst zu vertrauen. Sich einfach fallen zu lassen in die wunderbare Funktion der Homöostase, den Teil unserer Intelligenz, der ohne Bewusstsein funktioniert.
“Vertrauen hat nichts mit Rückversicherung zu tun. Wer sich selbst vertraut, weiß um die eigene Fähigkeit, das Unvorhersehbare anzunehmen, ...
Wir wissen nicht, wie ein Leben für uns ohne Alkohol aussehen könnte. Wir können uns Anregungen von anderen holen, die diesen Weg schon gegangen sind. Und trotz der vielen positiven Geschichten, wissen wir nicht, ob unser Leben nüchtern wirklich besser sein wird. Wir müssen uns selbst vertrauen. Dem Leben vertrauen.
... Mehr Selbstvertrauen zu gewinnen setzt eine gewisse Wandlung voraus: Für die Akzeptanz der Ungewissheit müssen wir uns tief im Inneren öffnen.“ Charles Pépin: Sich selbst vertrauen
Als ich zum erstem Mal aussprach, dass ich alkoholabhängig bin, war es genau das. Ich habe mich geöffnet. Ich war verletzlich. Ich hatte Angst. Ich habe mich geschämt. Gleichzeitig spürte ich
eine intensive Stärke und Verbundenheit in mir aufkommen.
Ich habe auf einmal ganz klar gespürt, dass ich mich am Anfang einer neuen Etappe in meinem Leben befand. Einer inneren Revolution, die mir den Weg frei machte, der zu mir selbst führt. Ich
war aufgeregt und neugierig. Ich wollte es wissen. Was kommt da auf mich zu? Was bringt mir das Leben, wenn ich nüchtern bin?
Vom ersten Tag fand ich mein neues Leben aufregend schön. Ich fühlte mich, als hätte ich einen Neustart-Button gedrückt.
Als Teenager glaubte ich, dass man rebellisch ist, wenn man Alkohol trinkt. Ich habe betrunken viele verrückte Dinge getan und habe mich dabei wild und frei gefühlt. Nüchtern betrachtet hatte
das rein gar nichts mit dem Gefühl von Freiheit zu tun. Ich war betrunken, ich war lenkbar und beeinflussbar. Ich war mir selbst nicht treu.
Am „Tag danach“ habe ich mich meistens für diese Verhaltensweisen geschämt. Ich war gar nicht frei und wild. Ich hatte keine Kontrolle mehr über mein Verhalten. Ich bin einem Bild hinterher
geeifert, welches definitiv nicht meinem Inneren entsprach. Das war nicht ich!
Heute, wenn ich ein Restaurant betrete oder eine Party besuche, wo die meisten Menschen Alkohol trinken, fühle ich mich wirklich frei! Weil ich es nicht mehr tun muss. Ich muss keinen Alkohol
mehr trinken! Das fühlt sich frei an und rebellisch. Weil ich mich selber fühlen kann und somit alles, was um mich herum geschieht. Sich mit allen Sinnen, die einem zur Verfügung stehen in
einem Moment fallen zu lassen kann wie eine Art Rausch sein. Dieser Rausch ist mit keiner Droge zu erreichen.
Wenn du im Internet nach Synonymen zu „nüchtern“ suchst, dann findest du Begriffe wie diese:
eiskalt - fantasielos - leidenschaftslos - trocken - emotionslos - einfach - geschmacklos - fade - langweilig - ungewürzt - usw.
Nüchternheit bedeutet für mich das volle Leben! Mit all seinen Facetten, Farben, Gerüchen und Gefühlen.
Ich möchte gerne ein paar andere Synonyme nennen, die mein Erleben, nüchtern zu sein, viel besser beschreiben. Gerne kannst du die Liste in den Kommentaren ergänzen:
kreativ - fruchtig - frisch - lecker - farbenfroh - warm - leidenschaftlich - gefühlvoll - wahr - klar - liebevoll - poetisch - würzig - kraftvoll - süß - usw.
Natürlich ist das Leben ohne Alkohol nicht wie eine rosa Wolke. (Wobei das viele am Anfang ihrer Nüchternheit genau so erfahren!) Man muss immer noch, wie alle anderen auch, Probleme
bewältigen und mit einer bunten Gefühlswelt zurecht kommen. Vor allem, wenn man lange Zeit getrunken hat. Aber all das fühlt sich auf einmal richtig an.
Ich für meinen Teil kann nun Herausforderungen mit klarem Verstand annehmen. Ich weiß wofür ich mich anstrenge, wovor ich mich fürchte und für was ich brenne.
Es fällt mir leichter meine Schwächen zu akzeptieren und die Schwächen der Anderen. Ich habe gelernt (und lerne noch) aus meinen Schwächen Kraft zu ziehen. Ich habe erkannt, dass die
Verantwortung für mein Leben voll und ganz in meinen eigenen Händen liegt. Nur ich kann an meinem Leben etwas ändern. Ich muss nicht mehr darauf warten, dass irgendwelche äußeren Umstände für
eine Veränderung sorgen. Ich muss die Entscheidungen treffen. Genau wie ich mich damals gegen den Alkohol entschieden habe.
Ich bin einfach unendlich dankbar dafür, dass ich Vertrauen gefasst habe und mich habe fallen lassen – in die wunderbare Leichtigkeit des Nüchternseins.
So soll es bleiben.
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