Der Rausch
Wenn ich meine Augen schließe und versuche, mich daran zu erinnern, was so reizvoll an einem Rausch war, dann kommt mir vor allem ein vermeintliches Gefühl von Freiheit in den Sinn.
Ich habe in meinem Leben einige Rauschzustände erlebt. Die meisten waren durch Alkohol initiiert. Dieser Rauschzustand endete schlagartig auf seiner Schattenseite, dem Kater am
nächsten Morgen. Seitdem ich nüchtern bin, habe ich logischerweise keinen Alkoholrausch mehr erlebt. In meiner Anfangszeit ohne Alkohol habe ich mich manchmal danach gesehnt. Ich fragte
mich, was genau es ist, was ich daran vermisse. Der Alkohol an sich war es nicht. Der Akt des Trinkens auch nicht. Es war der Rausch, der mir fehlte.
Ein Schwebezustand, die Auflösung von Grenzen, losgelöst von Raum und Zeit, das Vergessen von Konventionen und die Erlaubnis zur Unvernunft. Eine Auszeit von allen Verpflichtungen,
geregelt vom Über-Ich, das meine inneren Triebe jeglicher Art in Zaum hält.
Der Rausch und das "Glück"
Aber was genau ist ein Rausch? Warum suchen wir ihn immer wieder und warum spielen Drogen dabei eine so große Rolle? Muss man eigentlich Drogen nehmen, um in einen Rauschzustand zu kommen? Wenn wir etwas tun oder konsumieren, um einen Rausch zu erleben, dann appellieren wir an unser Belohnungssystem.
Dieses komplexe neuronale Netzwerk hat die Evolution eingerichtet, damit wir Dinge wiederholen, die unser Überleben sichern. Der Mensch muss essen, trinken und sich fortpflanzen. Tut er diese Dinge, werden im Belohnungszentrum Glückshormone ausgeschüttet. Das sorgt dafür, dass Essen, Trinken und Sex seit je her zu den Dingen gehört, die der Mensch normalerweise gerne tut – und wieder tun will.
Im Laufe der Menschheitsgeschichte wurde dieses System mit all seinen Botenstoffen immer komplexer. Außer unser Überleben zu sichern, streben wir stets danach unser Wohlbefinden zu
verbessern.
Abhängig davon, was wir konsumieren, oder was wir betreiben, beeinflusst ein dazu passender Cocktail aus Glückshormonen unseren Körper. Unser Schmerzempfinden z.B. wird durch Endorphine
gedämpft, unsere gute Laune durch Serotonin gesteigert und unsere Leistungsfähigkeit durch Adrenalin aufgeputscht. Alles, was uns gut gefällt, sorgt für die Wunder-Cocktails aus
Glückshormonen. Drogen wirken direkt auf dieses neuronale Netzwerk ein, verkürzen den Weg zum „Glück“ und vervielfachen die Ausschüttung von Botenstoffen wie z.B. Dopamin oder Serotonin.
Menschen wissen schon seit Jahrtausenden um diese Eigenschaft und nutzen Drogen, um leichter und schneller belohnt zu werden.
Der Rausch und seine Geschichte
Es gibt nur wenige Menschen, die ganz ohne Rausch auskommen. Menschen in allen Kulturen suchen den Rausch seit vielen tausend Jahren. Und das auch schon vor Christi Geburt.
Bei Ausgrabungen in Südchina haben die Archäologin Jiajing Wang und ihr Team zwei menschliche Skelette und Trinkgefäße mit Spuren von Hefepilzen gefunden, die nur vorkommen, wenn Alkohol im
Spiel ist. Diese Stätte ist 9000 Jahre alt. Die süchtige Gesellschaft von Carina Seeburg,
TA
Auch in Asien wurden bei Ausgrabungen Cannabissamen, datiert auf 8100 Jahre vor Christus gefunden.
In Südamerika gibt es eine lange Tradition des Drogenrauschs. Hier war der Konsum vom Peyote-Kaktus, der eine ähnliche Wirkung wie LSD hatte weit verbreitet. Funde belegen ein Vorkommen vor
4000 Jahren vor Christus.
Vielleicht hast du schon mal vom Opiumkrieg gehört. Die Briten versorgten damals die Chinesen mit Opium. Gegen 1830 berauschten sich über 10 Mio. Chinesen mit der dieser Droge. Das hatte
schwere soziale und körperliche Folgen. Die Menschen waren süchtig und verschuldeten sich bis in den Ruin. Kaiser Daoguang ging schließlich mit aller Härte dagegen an vor und löste 1839 den
Opiumkrieg aus.
Die Gesellschaft im Rausch
Ob Halluzinogene bei den Hippies, Ecstasy bei den Ravern auf der Love-Parade oder Amphetamine als Leistungsdroge heutzutage. Ob Beruhigungsmittel am Abend oder Schmerzmittel – Drogen begleiten uns Menschen in allen Kulturen, in allen Gesellschaftsschichten, seit vielen Jahrtausenden.
„Eine Kultur kann ohne Rausch nicht existieren“. Jürgen vom Scheidt, Psychologe im SZ- Interview
Er sagt, vor allem Jugendliche sind prädestiniert für den Rausch. Sie versuchen dadurch aus dem vorgeschriebenen System der Erwachsenenwelt auszubrechen. Sie brauchen den Kick in einer
eigenen Welt.
Das ist natürlich nicht nur durch Drogen zu erreichen. Jugendliche Prügeln sich nach dem Fußballspiel, fahren Autorennen, sie suchen sich ihren eigenen Adrenalinkick.
Schön, dass es Projekte wie z.B. Urbanatix gibt. Hier stellen Jugendliche seit mehr als zehn Jahren ihr Können zur Schau und holen sich obendrein noch ihren wohlverdienten Kick in der Gemeinschaft vor einem großen Publikum.
Rausch in der Gruppe – eine kollektive Enthemmung
"Rausch dient oft dazu, Gesellschaft im Kleinen zu erproben ... wir fühlen uns in diesem Ausnahmezustand der jeweiligen Gruppe besonders verbunden und identifizieren uns mit ihr, ob nun mit dem Sportklub oder einer Musikgruppe oder auch einer lokal definierten Gesellschaft."
Yvonne Niekrenz, Soziologin - Spektrum.de von Steve Ayan
In unserer Gesellschaft suchen wir regelmäßig Gelegenheiten, den Rausch mit anderen zu erleben und die Regeln des Alltags für eine kurze Zeit zu durchbrechen. Dazu feiern Menschen z. B. Fußballspiele, Musikfestivals, Raves oder den Karneval. Diese Events sind wie ein Ventil, um Konventionen zu brechen, sie erzeugen ein „Wir-Gefühl“. Durch die Glückshormone, die dabei entstehen, „lieben“ sich auch fremde Menschen. Es findet eine kollektive Befreiung statt, Hemmungen werden überwunden.
Ein Rausch, der nach Regeln und auch festen Ritualen verlangt, denn wie in jedem Rausch, verstärken sich nicht nur positive, sondern auch negative Gefühle und Verhaltensweisen. Neben der
Euphorie gibt es auch Aggressionen, die nicht nicht selten in Schlägereien enden. Vor allem bei Halluzinogenen wie Cannabis oder LSD kann der Rausch auch bei erfahrenen Konsumenten zu
einem Horrortrip werden.
Kulturelle Rituale, die uns erlauben einen Rausch zu erleben, sorgen dafür, dass die Gesellschaft sich nicht darin verliert und wieder zur Besinnung kommt. Sie setzen uns die Grenzen, die es
braucht, um wieder zu unserer gesellschaftlichen Verantwortung zurück zu finden. So kommt z. B. die enthemmte, gesellschaftliche Ekstase mit dem Aschermittwoch wie selbstverständlich zu einem
Ende.
Seit Menschengedenken suchen wir nach Gelegenheiten, uns mit Drogen zu berauschen. Und nicht nur wir, auch Tiere bedienen sich gerne an den Wundermitteln, die die Natur hergibt: Rausch im
Tierreich
Mehr darüber findest du hier: Rausch im Tierreich von Roman Goergen, Spektrum.de
Der Alkoholrausch
In unserer Gesellschaft ist Alkohol die meist verbreitete Droge, und viele Menschen trinken sich gerne mal in den Rausch.
Was passiert, wenn wir einen Alkoholrausch haben?
Kleine Mengen an Alkohol wirken eher euphorisierend und entspannend. Ein leichter Alkoholrausch fängt aus medizinischer Sicht bei etwa ein Promille an. Das entspricht bei einer Frau, mit 60 kg Körpergewicht etwa der Trinkmenge von einer halben Flasche Wein. Wenn die Frau gut trainiert im Trinken ist, dann liegt die Toleranzgrenze natürlich weiter oben.
Das kannst du anhand dieser Formel ausrechnen:
C | = | Promillewert |
A | = |
Alkoholmenge/Gramm (1 Fl. Bier/ 1 Glas Wein = etwa 20g) |
p | = |
Körpergewicht |
r | = |
Verteilungsfaktor (Mann: 0,7/ Frau: 0,6) |
Das Bewusstsein und die Orientierung sind bei einem „leichten Rausch“ noch erhalten. Man fühlt sich enthemmt – Alkohol, als soziales Schmiermittel, zeigt hier wunderbar seine Wirkung. Man
fühlt sich leistungsstärker, mutiger und deutlich entspannter. Die Reaktionsfähigkeit lässt allerdings schon nach. Ab ca. zwei Promille spricht man von einem schweren Rausch. Es ist schwierig
hier konkrete Werte zu ermitteln, da Alkohol so unterschiedlich auf die Individuen einwirkt. Klar ist: Je mehr Alkohol, desto stärker wird unsere Gefühlsebene gestört.
Bei einem schweren Rausch setzen die Funktionen der Schaltzentrale zunehmend aus. Es kommt zur übersteigerten Glücksstimmung. Gefühle wie Trauer, Freude, Wut, Glück, Verzweiflung oder Lust
können sehr verstärkt empfunden werden. Man kann nicht mehr gerade stehen und fängt an zu lallen oder zu torkeln.
Euphorie, Aggressionen, verminderte Selbstkritik und schließlich Desorientiertheit und Bewusstseinsstörungen sind die Folgen von „zu viel des Guten“. Die Exekutivfunktionen, gesteuert vom präfrontalen Cortex, funktionieren nicht mehr. Wir tun und sagen Dinge, für die wir uns am nächsten Tag schämen oder an die wir uns bestenfalls nicht mehr erinnern können. Wie Simon Borowiak in seinem Buch Alk so schön beschreibt:
„ Aus Normal wird Kingsize. Wir sind groß, stark und unverwüstlich; wir sind klein, arm und elend, wir sind Herr, wir sind Knecht, wir sind Gott, wir sind Wurst.“
Beim schweren Rausch führt uns die Intoxikation dann ins Krankenhaus, oder zumindest in die Horizontale und lässt lässt uns in der Regel den Schwur ablegen, nie wieder zu trinken.
Ab drei Promille besteht Lebensgefahr.
Es gibt sicher Menschen, die gut im Training sind und diese Grenze weit überschreiten. Ich bin während meines Praktikums auf der Entzugsstation einem Mann begegnet, der mit über fünf Promille
noch auf den Beinen war – ohne Worte.
Rausch – ganz ohne Drogen?
Wir müssen nicht unbedingt Drogen nehmen, um unser Belohnungssystem zu aktivieren. Mein Mann erlebt auch einen Rausch, wenn er mit seinem Mountain-Bike auf einem schönen Trail im Wald in den „Flow“ findet. Das kann ich bestätigen, wenn ich ihm nach seiner Tour ins Gesicht schaue. Er strahlt dann richtig vor Glück.
Auch Aktivitäten, wie Sport, Arbeit, Sex, (Medien-) Konsum, Spielen oder Putzen können für einen ordentlichen Dopaminschub im Gehirn sorgen und uns „glücklich“ machen. Wenn man nicht achtsam ist, kann man auch danach süchtig werden.
Ich glaube, ein wirklich guter Rausch ist der, in dem ich mich noch spüren kann und an den ich mich gerne erinnere. Er ist von intensiven Gefühlen begleitet und erweitert meinen Horizont. Er
bereichert mein Leben.
Eine schöne Jogging-Runde im Wald, ein extrem guter Nachtisch oder guter Sex können mich auch berauschen.
Nüchtern einen Rausch zu erleben – das musste ich erst wieder erlernen. Denn mein Gehirn hat über die Jahre verlernt, an den richtigen Stellen Glückshormone zu produzieren.
Noch immer beschäftigt mich die Frage, warum wir überall seit eh und je den Rausch suchen.
Die Neurochemie gibt uns eine Antwort. Doch auch in unserer nicht mehr „artgerechten“ Lebensweise finden wir Gründe für das Bedürfnis nach dem Rausch.
Ralf Schneider bezieht sich in seinem Buch Die Suchtfibel auf den Suchtexperten W.R. Miller: Experimente mit Tieren zeigen: Hält man sie unter ähnlichen Bedingungen, unter denen auch wir Menschen leben, fangen sie an mit Alkohol und anderen Drogen versetzte Flüssigkeiten im Übermaß zu trinken. Damit sind Lebensbedingungen gemeint, die bei den Tieren Stress auslösen: Isolation, Zusammenleben auf zu engem Raum, ein gestörter Zeitrhythmus, Störungen des sozialen Austausches und der Rangordnung. Nur Tiere, die unter idealen Lebensbedingungen, die ihrem natürlichen Lebensraum weitgehend entsprechen, gehalten werden, bevorzugen es, reines Wasser zu trinken.
Dieses Experiment finde ich sehr aussagekräftig. Denn Gleiches gilt meiner Meinung auch für uns Menschen. Wir haben uns von unseren natürlichen Lebensbedingungen weit entfernt. Wir sind
zunehmend Stress ausgesetzt, werden immer einsamer, Depressionen und andere psychische Erkrankungen nehmen ein pandemisches Ausmaß an.
Wenn wir uns für Drogen entscheiden, sollten wir imm Auge behalten, dass jeder Drogenrausch, jedes Glas Wein auf das Konto unserer Zukunft geht. Es ist ein ständiger Handel mit unserer
Gesundheit von Körper und Psyche. Es geht um jede einzelne Zelle in unserem Körper. Wir können entscheiden, auf welche Art wir uns berauschen und wovon wir nachhaltig profitieren.
Selbstbestimmt und mit allen uns zur Verfügung stehenden Sinnen.
Photo by Milo Weiler on Unsplash
Ich versuche möglichst oft, mich zu besinnen. Denn den Rausch, der nachhaltig wirkt, finde ich nicht auf dem schnellen Weg zum Kick. Der Rausch, der mein Leben bereichert und mich glücklicher macht, fühlt sich richtig an. Auch am Tag danach. Ganz ohne Drogen.
Kommentar schreiben