Warum schämen wir uns so sehr?
Als mir vor vielen Jahren eine Freundin das Buch Endlich ohne Alkohol von Allen Carr zum Geburtstag schenkte, bedankte ich mich lächelnd und ließ das Buch schnell weit hinten in der
Socken-Schublade verschwinden.
Ich habe mich geschämt.
Ungefähr 15 Jahre später habe ich es endlich gelesen. Es hat dann noch mal den Weg ins Bücherregal gefunden, bevor ich es ein zweites Mal gelesen habe und mir so zu meiner Entscheidung verhalf,
die alles in meinem Leben verändern sollte. Am Anfang meiner Nüchternheit, als ich langsam anfing, Familie und Freunden von meinem Entschluss zu berichten, habe ich mich geschämt. Später, als ich
dann erzählte, dass ich tatsächlich ein Alkoholproblem hatte, schämte ich mich. Es hat lange gebraucht, bis ich frei heraussagen konnte, dass ich alkoholabhängig war, ohne das zermürbende Gefühl
der Scham. Ein sehr unangenehmes Gefühl, welches in mir die Frage aufkommen ließ:
Was hat Alkoholabhängigkeit mit dem Schamgefühl zu tun?
Das Schamgefühl hängt von unseren Erfahrungen in der Kindheit ab. Wenn Eltern z.B. mit Liebesentzug, Ärger oder Ekel auf das Verhalten eines Kindes reagieren, kann das Gefühl von Scham, so hat
Michael Lewis, Psychologe festgestellt, hervorgerufen werden. Johanna Stapf für „Quarks“
Auch die Wertvorstellungen unserer Kultur sind für Scham verantwortlich. Unsere Gesellschaft setzt Maßstäbe, an denen sich das tiefe soziale Gefühl orientiert. Was den Alkoholkonsum angeht, ist
Alkohol in vielen mir nicht ganz nachvollziehbaren Situationen (z.B. der zweite Geburtstag der Tochter, beim Autofahren, …) durchaus akzeptiert. Alkohol gehört zum Alltag dazu. Wenn jemand nicht
trinkt, fällt er auf und es wird geforscht, warum er*sie nicht trinkt.
Mein Mann trinkt gar keinen Alkohol. Ich habe es erlebt, dass jemand ernsthaft in einem möglichen Trauma in seiner Kindheit den Grund dafür sieht! Dabei hat er gegen das Nervengift eine
Abwehrreaktion gezeigt und mit einer gesunden Selbstfürsorge auf sein erstes Glas reagiert und sich gegen Alkohol entschieden. „Normaltrinker“ fallen nicht auf. Aber diejenigen, die
augenscheinlich die Kontrolle über ihren Konsum verlieren, fallen auf. Und das wird nicht akzeptiert.
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In den 60-er Jahren wurde Alkoholismus offiziell zu einer Krankheit erklärt. Das war gut für die Menschen mit einer Alkoholabhängigkeit, denen dadurch die Kostenübernahme für eine Therapie ermöglicht wurde. Gleichzeitig hat sich damit auch ein Stigma entwickelt, welches in unserer Gesellschaft heute noch gültig ist. Alkoholabhängige sind unheilbar krank, haben es nicht geschafft den Alkohol unter Kontrolle zu halten und sind manchmal auch „schuldig“. Vor allem sind sie (willens)schwach.
Schwäche ist eine Eigenschaft, die kaum Akzeptanz erntet. Und da haben wir wieder einen dieser eingefleischten Glaubenssätze, die uns einen vermeintlichen Grund uns schämen zu müssen. Der Psychoanalytiker Léon Wurmser hält Schwäche für einen der wichtigsten Auslöser von Scham. Unsere Gesellschaft, die zunehmend nach Perfektion strebt, bietet einen Nährboden für das Gefühl der Schwäche und des Versagens. Wir haben Angst davor unsere Schwächen zu zeigen, weil wir dadurch verletzlich sind.
„Menschen, die sich ihrer Verletzlichkeit stellen, können eher positive Gefühle erleben“
Brené Brown (Schamforscherin in den USA) ist der Meinung, dass gerade in der Verletzlichkeit unsere Stärke liegt: „Menschen, die sich ihrer Verletzlichkeit stellen, können eher positive Gefühle erleben.“ SZ-Magazin
In ihrem Buch Verletzlichkeit macht stark spricht sie davon, dass Scham immer stärker empfunden wird, je weniger wir darüber reden.
Wäre es nicht ein großer Fortschritt, wenn wir laut aussprechen könnten: „Ja, ich trinke zu viel Alkohol, weil ich dem Verlangen nicht widerstehen kann.“ Genauso, wie die meisten Menschen auch
sagen können: „Ich kann einfach nicht aufhören Schokolade zu essen, weil ich danach süchtig bin.“
Mir sind, seitdem ich keinen Alkohol mehr trinke, viele Menschen begegnet, die auf meine Nüchternheit mit sofortiger Defensive reagierten. Andere haben auch gerne das Thema direkt gewechselt und
gar nicht lange nachgefragt, warum ich mich gegen Alkohol entschieden habe. Vielleicht steckt auch hier Scham dahinter?
Scham kann sehr schmerzhaft sein. In ihr drückt sich die Unsicherheit der Existenz unserer Grundbedürfnisse wie Zuneigung und Selbstachtung
aus. Wir glauben, wir seien nicht genug. Das Selbstwertgefühl leidet enorm darunter.
Scham kann aber auch nützlich sein. Es ist ein Ursprungsgefühl, das uns dabei hilft, anpassungsfähig zu sein und die Normen in unserer
Gesellschaft zu akzeptieren. Das ist auch gut so. Unsere Sicherheit und Gesundheit, nach der wir streben, ist hierdurch leichter zu sichern. Menschen, die sich „normal“ verhalten, müssen sich
nicht schämen. Diejenigen, die den Stempel „Alkoholiker“ aufgesetzt bekommen, schämen sich in der Regel.
Alle Menschen schämen sich.
Bis zu einem bestimmten Punkt, ist es vollkommen ok sich zu schämen – ja sogar gesund. Es schützt uns davor zu überheblich zu werden und macht uns zu sozialen Wesen. Ich bin allerdings der Meinung, dass sich kein Mensch für sein Alkoholproblem schämen sollte. Alkohol ist ein Droge, die extrem süchtig macht. Das Suchtpotential ist beim Alkohol nach Nikotin wesentlich höher als bei Cannabis. Studien haben ergeben, dass von den Menschen, die Alkohol konsumierten, 23% eine Abhängigkeit entwickelten. Bei Kokain 21%, Cannabis 9%. drugcom.de
Du bist nicht Schuld an deiner Abhängigkeit (deinem Verlangen nach Alkohol)!
Die Offenheit dem Thema Alkoholkonsum gegenüber – ob normal, risikoarm, risikoreich, schädlich, einschließlich der Suchterkrankung, oder auch Abstinenz – kann uns dabei helfen, den Blick auf unseren gesellschaftlichen Umgang mit Alkohol zu ändern. Das halte ich für dringend notwendig. Verletzlichkeit zu zeigen, den Mut zu haben seinen eigenen Konsum ehrlich zu reflektieren, kann uns stark machen. Denn Stärke brauchen wir, wenn wir uns für eine Verhaltensweise entscheiden, die nicht der gesellschaftlichen Norm entspricht: Einfach nüchtern zu sein.
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